Die Herrin der Pyramiden
befürchtet hatten, ist geschehen! Das weiche Sandsteinplateau hat sich unter dem Gewicht des Pyramidensockels gesenkt. Ich hoffe, dass keine größeren Schäden am Fundament entstanden sind.«
»Die Grabkammer hat Risse«, sagte Rahotep.
Kamose starrte den Prinzen an, als habe er nicht richtig gehört.
»Ich habe es auch gesehen, Vater. In der Grabkammer befindet sich ein Riss von der Breite zweier Finger, der vom Gewölbe bis zum Boden verläuft.«
Das Gesicht meines Vaters war grau, und er musste sich setzen. »Obwohl wir mit unseren Berechnungen Recht hatten, ist dies kein Triumph, sondern eine Niederlage. Mit einem solchen Riss ist die Grabkammer unbrauchbar. Die Pyramide kann kein Königsgrab mehr sein!«
Mein Vater ließ die Bauarbeiten an der Pyramide sofort für zwei Tage einstellen. Er begründete diese Unterbrechung mit der anhaltenden Hitzewelle und einem bevorstehenden Feiertag des Gottes Ptah, dem Herrn der Bauleiter und Steinarbeiter. Viele Bauarbeiter verließen die Baustelle, um an den Feierlichkeiten im Tempel des Ptah teilzunehmen.
Wir bereiteten uns vor, erneut in die Grabkammer hinabzusteigen, um die aufgetretenen Schäden zu begutachten. Prinz Rahotep, der die Baustelle seit der Katastrophe nicht verlassen hatte, wollte uns begleiten, doch Kamose warnte ihn, dass die Pyramide sich erneut senken konnte.
Mein Vater und ich krochen den endlosen Gang hinab ins Herz der Finsternis, während Rahotep und Sarenput draußen in sicherer Entfernung auf uns warteten. Die Sicht im Korridor war schlecht, weil Flugstaub durch die Ritzen zwischen den Steinquadern bis in den Grabgang hinabgerieselt war. Hustend und blinzelnd arbeiten Kamose und ich uns durch die Finsternis bis zur ersten Vorkammer, die unbeschädigt war. In der Grabkammer hatte sich ein zweiter Riss gebildet, der in einer Ecke der Kammer verlief.
Im Schein der Öllampe sah ich meinen Vater ohnmächtig die beiden Risse anstarren.
»Die Risse bilden keine statischen Probleme, Vater. Das Gewölbe wird dem Druck von oben und den seitlichen Kräften standhalten«, sagte ich zuversichtlich und versuchte seine Bedenken zu zerstreuen.
Mit beiden Händen betastete er die Bruchkanten der Steine, als ob er die geborstenen Quader wieder zusammenschieben wollte. »Das mag sein, Nefrit. Diese Grabkammer kann aber so nicht für das Begräbnis des Königs benutzt werden.«
»Wir könnten die Risse mit Gipsmörtel auffüllen. Wenn die Stabilität der Kammer nicht gefährdet ist, wird diese kleine Ausbesserung niemandem auffallen. Wenn erst die Stuckschicht …«
»Nefrit, du weißt doch genau, dass diese Grabkammer nicht verputzt und bemalt wird!«
»Dann werden wir eben …«
Kamose schüttelte den Kopf. »Prinz Nefermaat wird dieser erneuten Änderung der Pläne nicht zustimmen.«
»Das muss er auch nicht, Vater. Er wird davon nichts erfahren!«
Durch den Staub in der Grabkammer hatten die Augen meines Vaters ihren Glanz verloren. »Er wird nichts erfahren?«
»Nicht von mir.«
Kamose zögerte. »Wir müssen das Beben im Baubericht erwähnen.«
»Der Bericht wird aussagen, dass die Pyramide aufgrund des Bebens keine größeren Schäden erlitten hat. Das ist nicht gelogen.«
»Aber es entspricht auch nicht der Wahrheit!«
»Willst du diese Schäden dem Wesir berichten? Willst du diese Pyramide aufgeben und eine dritte Pyramide für Seneferu errichten? Das ist Wahnsinn! Es stecken zwei Jahre Arbeit in dieser Pyramide, und die Steinlagen haben bereits eine beträchtliche Höhe erreicht. Wir können jetzt nicht mehr aufhören.«
Kamose, in seiner Berufsehre als Bauleiter gekränkt, vergrub sich einen ganzen Tag in seinem Zelt. Ich nahm an, dass er ausrechnete, was die Aufgabe der zweiten Pyramide des Königs finanziell für den Staat bedeuten würde: Es würde der teuerste Riss der Geschichte Kemets werden. Er würde vermutlich nicht nur die Schatzkammern von Pihuni erschöpfen, weil mit der Bauplanung für eine dritte Pyramide begonnen werden musste, sondern auch meinen Vater und mich als Verantwortliche den Kopf kosten. Zwar hatten nicht wir den zu hohen Neigungswinkel zu verantworten, sondern der Wesir, aber würde das einen erzürnten König interessieren? Kamose blieb nur eine Möglichkeit: Weiterbauen, den Riss verkleiden und hoffen, dass niemals jemand Fragen stellte.
Am nächsten Tag bat mich mein Vater in sein Zelt und diktierte mir den Bericht an Prinz Nefermaat. Ich schrieb:
»Kamose von Tis, Königlicher
Weitere Kostenlose Bücher