Die Herrin der Pyramiden
hatte. Geduldig wiederholte er seine Ausführungen zur Errichtung von Säulen und zur künstlerischen Ausgestaltung von Fassaden.
»Ich befürchte, ich werde die Zwischenprüfung nicht bestehen, Rechmire.« Wir besichtigten gemeinsam die Baustelle, auf der am späten Nachmittag noch gearbeitet wurde.
»So ein Unsinn, Nefrit! Du hast mehr Erfahrung in der Bautechnik als jeder andere meiner Schüler. Du bist selbst Prinz Sarenput überlegen, obwohl er meine Vorlesungen mehr oder weniger regelmäßig besucht. Selbst Prinz Rahotep lernt nicht so schnell.«
Ich war stehen geblieben, um die hohen Säulen im Licht der untergehenden Sonne zu betrachten. Der Himmel hatte die Farbe von schmelzendem Gold angenommen. Schwalben hatten ihre Nester auf den Kapitellen der bereits errichteten Säulen gebaut.
»Prinz Rahotep?«
»Der Sohn des Königs ist seit wenigen Wochen ein Schüler der Architektur. Es heißt, er soll Königlicher Bauleiter werden. Zumindest absolviert er eine ordentliche Ausbildung, die er übrigens sehr ernst nimmt. Prinz Nefermaat hat ja bekanntlich nicht allzu viel Ahnung von Architektur, obwohl er allzu gern in bereits genehmigten Plänen herumpinselt.«
»Rechmire, bitte sei vorsichtig mit dem, was du sagst! Sarenput ist der Sohn von Nefermaat.«
»Keine Angst, Nefrit, das werde ich nicht vergessen. Prinz Sarenput wird die Prüfungen wohl bestehen müssen. Der König hat glücklicherweise erkannt, dass er mit Prinz Nefermaat einen unfähigen Vorsteher aller Bauarbeiten ernannt hat, und will nun schnellstmöglich seinen Sohn Rahotep auf diese Aufgabe vorbereiten.«
»Weiß Nefermaat davon?«, fragte ich.
»Ich nehme es an. Zudem hat der Wesir zu viele andere Aufgaben, um sich um die Bauaufsicht der diversen Großprojekte seines Bruders zu kümmern. Es heißt, der König plane die Vergrößerung des Sonnentempels von Iunu, die Erweiterung des Hathor-Tempels von Yunet um einen weiteren Vorhof und die Errichtung eines Amun-Tempels in Karnak.«
»Ich dachte, er begünstigt diesen neuen Gott, Atum? Warum erweitert er die Tempel von Re, von Hathor und baut einen neuen Tempel für Amun, wenn es nur noch diesen einen Gott gibt?«
»Vielleicht will er die anderen Götter milde stimmen?«, vermutete Rechmire.
»Wann wird Seneferu zur Ruhe kommen?«, fragte ich. »Er baut, als hinge sein Leben davon ab.«
Die Abende der Erntezeit des zwölften Regierungsjahres verbrachte ich in meinem Zelt, das ich nicht mehr mit Kamose teilte. Ich saß in Schreiberstellung im Licht einer Öllampe und entwarf die Grabdekoration für Nefermaats Grab: Enten und Gänse, Pferde und Löwen. Die Entwürfe sandte ich per Boten nach Pihuni. Später in der Nacht bereitete ich mich auf die Zwischenprüfung vor.
Die fünf dunklen Tage am Jahresende verbrachte ich wie jeder Mensch still in meinem Zelt und hoffte, dass die Welt nicht untergehen würde. Voller Erleichterung fuhr ich dann mit meinem Wagen nach Mempi, um an der Neujahrsprozession des Ptah teilzunehmen. Es war ein Jahr her, dass ich zuletzt die Riten durchgeführt hatte, und ich empfing die Rüge des Hohepriesters über die Vernachlässigung meiner priesterlichen Pflichten. Ich wurde durch die Tempelverwaltung aufgefordert, erneut eine Kammer im Tempel zu beziehen, um das vorgeschriebene Jahr zur Ernennung als Priesterin Zweiten Grades zu absolvieren. Leider ließ sich dies mit meinen Verpflichtungen auf den diversen von mir betreuten Baustellen, meiner Funktion als künstlerische Beraterin des Nefermaat-Grabes und meinem Unterricht bei Rechmire nicht vereinbaren.
Nach langen Verhandlungen gestand mir die Tempelverwaltung ein Jahr Aufschub zu. Doch ich musste mein Versprechen schriftlich hinterlegen, dass ich mich zu Beginn des vierzehnten Regierungsjahres des Seneferu freiwillig im Tempel einfinden würde, um das Ausbildungsjahr zum Zweiten Priestergrad zu beginnen.
Am ersten Neumond des neuen Jahres packte ich einen Sack mit wenigen Sachen, die ich während meines Aufenthaltes in Mempi benötigen würde, und fuhr in die Alte Hauptstadt. Die Zwischenprüfung nach Ende des ersten Studienjahres sollte an jenem Tag stattfinden.
In den Monden meiner Abwesenheit war vielen Schülern bewusst geworden, dass das Studium der Architektur schwierig war und ein ausdauerndes Lernen und ein gewissenhaftes Arbeiten erforderte und wenig mit künstlerischem Ausdruck zu tun hatte: Einige hatten das Studium aufgegeben.
In Rechmires Zelt hatten neun Jungen in
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