Die Herrin der Pyramiden
Schreiberhaltung Platz genommen und warteten auf die Aufgaben, die ihnen Rechmire geben würde. Weil ich spät dran war, nahm ich in der letzten Reihe Platz und achtete nicht darauf, neben wem ich saß. Als Rechmire die Aufgaben ausgeteilt hatte, konzentrierte ich mich auf die Lösung der Berechnungen.
»Du bist Nefrit«, sagte der junge Mann im langen Priesterschurz des Sonnengottes, der während der Prüfungen neben mir gesessen hatte, als wir die gelösten Aufgaben an Rechmire zurückgegeben hatten. »Nefrit die Geheimnisvolle, Nefrit die Abwesende.«
Ich sah auf, als ich meine Schreibbinse einsteckte. »Und wer bist du? Ich habe dich hier noch nie gesehen.«
»Das ist kein Wunder, da du in den letzten Monden nicht zu den Vorlesungen erschienen bist«, sagte der junge Mann. »Ich bin Prinz Rahotep, der Sohn des Königs.«
Ich grüßte ihn dem Hofzeremoniell entsprechend durch einen tiefen Kniefall und küsste den Boden unter seinen Füßen.
Rahotep hatte trotz seines jugendlichen Alters die athletische Statur eines Mannes. Seine Hüften waren schmal, die Schultern breit, die Arme muskulös, als treibe er regelmäßig Sport wie Stockfechten oder Bogenschießen. Die dunklen Augen unter den schmalen, geschwungenen Augenbrauen hatten ihren forschenden Blick auf mich gerichtet. Seine Lippen schienen nie zu lächeln.
»Ich freue mich, dich kennen zu lernen, mein Prinz.«
»Ich freue mich, dich kennen zu lernen, Nefrit. Ich arbeite seit einigen Wochen als Rechmires Gehilfe auf der Tempelbaustelle. Unsere Tätigkeiten sind gleich und doch sehr unterschiedlich, wie mir scheint. Ein Besuch auf der Baustelle des Grabmals meines Vaters interessiert mich, da diese wesentlich größer ist als die Baustelle des Tempels. Rechmire hat mir zu verstehen gegeben, dass ich diesen Besuch mit dir abstimmen sollte.«
Sollte das ein Scherz sein? Aber er sah mich ernst an. Der Sohn des Königs bat mich um die Besichtigung meiner Baustelle? Unglaublich!
Zu Beginn der folgenden Woche fuhr ich nach Mempi, und Prinz Rahotep führte mich durch den neuen Atum-Tempel, dessen Bauarbeiten bald abgeschlossen sein würden.
Ich war beeindruckt von der Offenheit und Helligkeit des Tempels. Obwohl die Säulen dick und hoch waren, die gewaltigen Tore höher als drei Häuser übereinander, wirkte dieser Tempel fast schwerelos. Das Sonnenlicht, das Symbol des neuen Gottes, erleuchtete selbst die dunkelsten Ecken.
Der König, sein Wesir und sein Bauleiter Rechmire hatten sich in diesem Projekt selbst übertroffen. Ich konnte mir angesichts dieser Herrlichkeit und Größe vorstellen, mit welchen Erwartungen Seneferu der Fertigstellung seiner neuen Residenz in Mempi entgegensah und mit welcher Spannung er die Errichtung des Königsgrabes weiter stromaufwärts verfolgte.
In den wenigen Unterrichtsstunden, die ich auf Rechmires Baustelle besuchen konnte, kamen Prinz Rahotep und ich uns näher. Wie Sarenput verzichtete er während seiner Ausbildung fast vollständig auf das vorgeschriebene Zeremoniell, was ihn mir sehr sympathisch machte. Auf die Dauer war es sehr umständlich, bei jeder Gelegenheit den Boden zu küssen.
Prinz Rahotep hatte bereits vor Wochen den Wunsch geäußert, in die Grabkammern der Pyramide hinabzusteigen. Nach einer der Unterrichtsstunden bei Rechmire nahm ich ihn mit auf die Baustelle.
Ohne Begleitung stiegen Prinz Rahotep und ich hinauf auf das Pyramidenplateau und begaben uns zum Eingang an der Nordseite. Der Prinz hatte seine Vermessungsinstrumente mitgebracht, mit denen er die Nordausrichtung des Grabschachtes nachmaß.
»Bis auf den Winkelgrad genau!«, sagte er bewundernd. »Mein Vater wird sehr zufrieden sein, wenn er die Pyramide besichtigen wird.«
»Wann wird er hier erscheinen?«, fragte ich. »Der König war seit der Grundsteinlegung vor zwei Jahren nicht mehr hier.«
»Der Umzug der Residenz von Pihuni nach Mempi soll bald durchgeführt werden, habe ich gehört. Sarenput hat deswegen mit seinem Vater gesprochen.«
»Er hat mir nichts davon erzählt«, wandte ich ein.
»Muss er das?«, fragte mich Prinz Rahotep.
»Nein, natürlich nicht.«
»Er liebt dich. Er will dich heiraten.«
»Du weißt davon?«
»Du vergisst, dass wir zusammen aufgewachsen sind. Er ist mein Cousin. Auch wenn wir auf unterschiedlichen Baustellen als Gehilfen arbeiten, unterhalten wir uns doch hin und wieder.«
»Was weißt du über den Umzug der Residenz?«
»Mein Onkel Nefermaat hat den Befehl erhalten, die Verlegung
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