Die Herrin der Rosen - Historischer Roman
er nach wie vor Constable war. Voller Bitterkeit fragte ich mich, warum Edward ihm diesen Posten gelassen hatte, nachdem seinen brutalen Erniedrigungen vom März und Juni ein weiterer Schlag gefolgt war: Er hatte John das Wachkommando an der schottischen Grenze entzogen und es seinem knapp achtzehnjährigen Bruder Dickon übergeben.
Trockene Zweige knackten unter meinen Füßen, als ich mich zum Verschnaufen an einen Baum lehnte. Ebensogut hätte Edward ein Messer in Johns Herz rammen können. »Warum? Was habe ich getan?«, hatte John mich gefragt.
Nichts, außer, dich für deinen König zu opfern, der dich verraten hat und auch künftig verraten wird , hatte ich gedacht . Was ich laut aussprach, war: »Du warst deinem König treu, aber dein König ist es dir nicht, mein Liebster. Loyalität ist eine Tugend, die auf Gegenseitigkeit fußen sollte.« Mittlerweile hatte ich den treulosen und tadelnswerten Edward verachten gelernt, doch ich ging nicht so weit, John zu raten, sich von ihm abzuwenden. Zu diesem Entschluss musste John selbst kommen.
Rastlos lief ich weiter über trockenes Laub und knackende Zweige und schob Dornenranken zur Seite, die mir den Weg versperrten. Aus Gründen, die ich nicht kannte, fiel mir Somerset ein. »Seine Lage ist in vielerlei Hinsicht unmöglich«, hatte Malory gesagt, nachdem Somerset von Edward begnadigt worden war. »Die Zeit wird uns die Antworten verraten, die wir heute nicht haben.« Und die Zeit hatte Somerset in Lancasters Arme zurückgetrieben, wo er gestorben war.
Tiere huschten vor mir über den Pfad, andere erstarrten und beäugten mich misstrauisch. An einem kleinen Bach kniete ich mich hin, tauchte mein Gesicht ins Wasser und trank gierig. Meine Zunge war trocken und geschwollen, und mein Herz pochte so unregelmäßig, dass ich fürchtete, meine letzten Atemzüge wären gekommen. Der Bach murmelte leise, während ich hinabsah auf mein flirrendes Spiegelbild mit dem Himmel dahinter. Alles wirkte so friedlich, und doch blieb der Friede eine Illusion. Umgeben von sterbendem Laub, sah ich hinauf zum Himmelszelt. Um ihren Pakt zu besiegeln, war Marguerites sechzehnjähriger Sohn, Prinz Edward, mit Warwicks Tochter Anne verlobt worden, die ihrerseits in Dickon verliebt war. Vor meinem geistigen Auge sah ich Prinz Edward in Coventry; damals war er sechs Jahre alt gewesen und hatte genüsslich von Enthauptungen gesprochen.
Die Verlobung sollte im Dezember in Amboise stattfinden. Dickon hatte die Nachricht nicht gut aufgenommen. Gefangen am Hof unter Woodvilles, die er nicht minder hasste als John, blieb er meist für sich. Die Loyalität Edward gegenüber war Dickons stärkster Charakterzug, allerdings war sein Los auch ein leichteres als Johns. Dickon hatte noch einen Bruder an seiner Seite, wohingegen Johns Brüder beide Verräter waren. John war ein verhasster Neville auf feindlichem Territorium, der vom König fallen gelassen worden war, von jedem verachtet wurde und gezwungen war, die fortgesetzten Erniedrigungen durch Percy zu erdulden. Henry Percy sorgte auf die ihm eigene Art dafür, dass die Wunde, die John mit dem Verlust seines Titels und seiner Kommandos zugefügt worden war, durch stets neue Beleidigungen offen blieb.
Johns Lage quälte mich Tag und Nacht, sie raubte mir den Schlaf und verursachte mir eine Pein, wie ich sie nie gekannt hatte. Johns Bruder George ging es ungleich besser; als Erzbischof blieb er vor Edwards Zorn geschützt und könnte sich eines Tages wieder mit ihm aussöhnen. Warwick jedoch war ein Aufrührer, der sich zwei Mal gegen den König erhoben hatte, und Edward blieb keine anderen Wahl, als ihn zu jagen und zu töten. Wie konnte John das ertragen? Wie konnte er König Edward helfen, seinen Bruder in der Schlacht niederzumetzeln, oder ihn Edward ausliefern, auf dass der ihn enthauptete? John hatte Verrat immer gehasst; er war ausnahmslos seinem Motto treu geblieben – Ehre, Treue, Liebe. Lange Zeit hatte er sich geweigert, seine Brüder als Verräter anzusehen. Nun war er selbst einer, ob er seinen Bruder oder den König unterstützte, für einen von ihnen blieb er ein Verräter.
Gütiger Gott!, rief ich zum Himmel. Bist du da? Kannst du mich hören? Kannst du uns nicht helfen?
Wen würde John wählen – wie konnte er wählen? Ich warf den Kopf in den Nacken und schrie gen Himmel. Gott verfluche dich, Edward! Gott verfluche dich, Elizabeth Woodville! Mögen sich die Teufel der Hölle an euren fauligen Seelen nähren!
In stummer
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