Die Herrin des Labyrints
ganz andere Geschichte.«
Eine, die sie offensichtlich nicht bereit war zu erzählen, denn sie schaute demonstrativ auf die Uhr. Über eine Stunde war vergangen, und da ich wusste, dass Ulli wieder ungehalten sein würde, wenn ich erst um zehn nach Hause kam, bedankte ich mich bei Halima.
»Die Frage ist noch nicht vollkommen beantwortet, nehme ich an«, erwiderte sie darauf.
»Nein, das ist sie nicht.«
»Dann überleg dir für das nächste Mal, welche weitere Frage du stellen willst.«
»Verdammt, warum tust du so geheimnisvoll?«, entfuhr es mir, denn mit ihrer überlegen wissenden Haltung zerrte sie an meinen Nerven. Kaum hatte ich sie angeblafft, war es mir auch schon unangenehm, und ich hob zu einer Entschuldigung an. Doch Halima schien mir den Ausrutscher nicht übelzunehmen. Sie lachte laut auf und öffnete mir die Tür.
»Das ist doch ganz einfach, Amanda. Ich bin geheimnisvoll! Stell dir vor, wie fade das Leben ohne dieses bisschen Mystik wäre.«
Darüber allerdings musste ich dann auch lachen. Erst im Auto während der Heimfahrt fing ich an zu rechnen. Wenn Halima damals vierzehn, bei Josianes Tod siebzehn war und der nun neunundzwanzig Jahre her war, dann musste Halima heute Mitte vierzig sein. Das überraschte mich mehr als alles andere.
KAPITEL 12
Die große Hure
Die Göttin war nach ihrer Begegnung mit der sanftäugigen Maria eine Weile nachdenklich geworden. Wenn Maria derzeit die einzige Göttin in den Tempeln der Sterblichen darstellte, dann musste sie ihre Suche wohl noch mehr ausweiten. Natürlich wollte sie jetzt wissen, ob die Hure von Babylon bereit war, ihr zu helfen, ohne dass sie ihre eigene Persönlichkeit verleugnen und sich brav und zurückhaltend geben musste. Die Beschreibung, die sich Maria zu ihrer dunklen Schwester abgerungen hatte, war spärlich genug, aber durchaus verlockend.
»Das Weib ist in Purpur und Scharlach gekleidet und geschmückt mit Gold, Edelgestein und Perlen. Es hält einen goldenen Becher in der Hand, voll vom Gräuel und Unrat der Hurerei«, hatte Maria abschätzig gesagt.
Die Göttin hielt Ausschau nach dem geschmückten Scharlachweib und fand zu ihrer Überraschung unter den Menschen eine, die dieser Beschreibung einigermaßen in Kleidung und Benehmen entsprach. Sie schlüpfte in ihren Körper und genoss das Vergnügen, das sie beinahe an die Zeit in der Welt hinter den Welten erinnerte. Aber dennoch erwies die Erfahrung sich als enttäuschend, denn diese Frau legte nach einer kleinen Hurerei die erfreulich ekstatische Stimmung mitsamt dem Schmuck ab und wurde wieder eine langweilige Sterbliche mit all ihren kleinen, völlig ungöttlichen Problemchen. Darum wandte sich die Göttin abermals von den Menschen ab und suchte nach der wirklich großen Hure. Was lag näher, als die Dame genau dort, nämlich in Babylon, zu suchen. Doch ihre Enttäuschung war gewaltig, als sie die staubigen Trümmer einer verfallenen Stadt vorfand, in denen weder Menschen noch Götterbilder zu existieren schienen. Das war kein geeigneter Ort für Huren und ihre lustvolle Beschäftigung. Verlassen irrte die Göttin durch die Ruinen und wirbelte aus lauter Frust Staubwölkchen auf. Schließlich schrie sie empörtüber die stille Stätte: »Wo bist du, Babylon, du Große, du Mutter der Dirnen und der Gräuel der Erde?«
»Hier, meine Liebe, hier bin ich. Aber ich schätze die biblische Form der Anrede nicht besonders.«
»Wie bitte?«, fragte die verdutzte Göttin und sah sich suchend um. Unter einem zusammengefallenen Tempelchen, das den sorgsamen Augen der Archäologen entgangen war, entdeckte sie eine tönerne Gestalt. Es war eine breithüftige, langhaarige Frau, die ihre Hände unter den Brüsten hielt. Im Gegensatz zu der sittsam verhüllten Maria hatte sie kaum einen Fetzen am Leib, weder einen in Scharlach noch in Purpur.
»Oh, hallo«, grüßte die Göttin sie. »Ich wollte nicht unhöflich sein. Wie soll ich dich bitte anreden?«
»Wie wäre es mit: ›Göttin der Göttinnen, Herrin der Herrinnen, Fackel des Himmels, Licht der Welt, Göttin des Seufzens, frohäugige Ishtar des Verlangens‹ und so weiter und so weiter. Du kannst aber auch einfach Ishtar zu mir sagen.«
»Danke, das ist nett. Also, Ishtar, ich habe folgendes Problem …« Und die Göttin unterbreitete der Mutter des Lebens, der Königin des Himmels, Hirtin der hellhäutigen Menschen und so weiter und so weiter ihre Lage.
»Nun ja«, meinte Ishtar, »ich könnte dir helfen, denn ich bin mit
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