Die Herrin Thu
begann zu lesen, während wir ängstlich zusahen. Der Diener schenkte Wein in silberne Pokale ein und reichte Honigkuchen herum. Wir tranken einen
Schluck. Auf einmal fragte Ramses, ohne aufzublicken: „Paiis, lebt mein Bruder noch?“
„Aber natürlich, Prinz“, erwiderte Paiis etwas entrüstet, womit er aber niemanden täuschen konnte.
„Gut“, knurrte der Prinz. Und wieder herrschte Schweigen.
Ungefähr eine Stunde verging, bis sich die Tür öffnete und der Schreiber hereingeeilt kam. Er umklammerte eine Rolle. Mit einer Verbeugung näherte er sich dem Schreibtisch. Der Prinz bewegte sich nicht. „Ich bitte um Vergebung, Prinz“, sagte der Mann, „aber in den Archiven war niemand mehr, ich mußte den Archivar erst suchen. Er war auf dem Fest und in der Menschenmenge schwer zu finden. Und dann hat er auch noch einige Zeit gebraucht, bis er die Rolle gefunden hatte, die du haben wolltest. Aber hier ist sie.“ Ramses nickte.
„Lies sie uns vor“, sagte er. Der Schreiber entrollte sie.
„Sei gegrüßt, Herr allen Lebens, Göttlicher Ramses“, hob er an. „Mein liebster Gebieter. Fünf Männer, darunter auch Dein erlauchter Sohn Prinz Ramses, sitzen noch immer wegen eines schrecklichen Verbrechens über mich zu Gericht. Nach dem Gesetz darf ich mich nicht selbst verteidigen, aber ich darf Dich, den Wahrer der Maat und höchsten Richter Ägyptens, bitten, Dir anzuhören, was ich Dir zu meiner Verteidigung zu sagen habe. Darum flehe ich Dich um der Liebe willen an, die Du einst für mich empfunden hast, erinnere Dich an alles, was wir geteilt haben und erlaube mir, ein letztes Mal bei Dir vorgelassen zu werden. Es gibt in dieser Sache Dinge, die ich nur Dir allein offenbaren möchte. Mögen auch alle Verbrecher das gleiche behaupten, um ihr Schicksal abzuwenden, ich versichere Dir, mein König, daß ich benutzt wurde, und das mindert meine Schuld. Du hast ein feines Gespür für solche Dinge, daher nenne ich Dir folgende Namen.“
Der Schreiber hielt inne. Und da begriff ich jählings, was ich hörte, und der Atem stockte mir. Mein unbestimmter, aber nicht abzuweisender Verdacht hatte sich bestätigt, der Pharao wußte, wer die Verschwörer waren, hatte es all die langen Jahre gewußt, weil Thu es ihm gesagt hatte. In ihrer abgrundtiefen Angst hatte sie einem Schreiber die Namen zugeflüstert, und der hatte sie pflichtschuldigst zum König getragen. Darum war sie mit dem Leben davongekommen. Es hatte zwar keine Beweise gegeben, doch als gnädiger Gott hatte Ramses das zu Thus Gunsten ausgelegt. Sie hatte ihr verzweifeltes letztes Flehen elegant formuliert, und auf einmal war ich stolz. Ich hatte sie gut ausgebildet. Dabei mußte ich einen Laut gemacht haben, denn der Prinz wandte mir den Kopf zu.
Mit halbem Auge konnte ich Paiis sehen. Der räkelte sich nicht mehr auf dem Stuhl. Er saß aufrecht, hielt die Knie mit den Händen umfaßt und sah sehr blaß aus. Der Schreiber fuhr fort zu lesen, zählte die Namen derer auf, die meinen jugendlichen Übereifer und meine Phantasie entzündet und ein wißbegieriges Mädchen aus Aswat verdorben hatten. Hui, der Seher. Paibekamun, der Oberhofmeister. Mersura, der Iri-pat. Panauk, Schreiber im Harem. Pentu, Schreiber im Doppelhaus des Lebens. General Banemus und seine Schwester, die Herrin Hunro. General Paiis. Mich und ihre Leibdienerin Disenk hatte sie nicht auf die Liste der Verschwörer gesetzt, obwohl ihr klar sein mußte, welche Rolle wir beide bei ihrer Ausbildung gespielt hatten. Vielleicht hatte sie flüchtig Mitgefühl mit uns verspürt, weil wir wie sie waren, aus dem niederen Volk und ohne Aussicht auf Rettung, auf die Leute von höherer Geburt hoffen durften. „Ich flehe die Majestät an, mir zu glauben, daß diese Edelmänner, die zu den mächtigsten in Ägypten zählen, Dich nicht lieben, sondern versucht haben, Dich durch mich zu vernichten. Sie werden es erneut versuchen.“ Der Prinz gebot dem Mann Schweigen.
„Das reicht“, sagte er, erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf die Kante. „Diese Rolle hat Thu aus Aswat vor ungefähr siebzehn Jahren drei Tage vor ihrem Todesurteil diktiert“, fuhr er im Plauderton fort. „Mein Vater hat sie gelesen und sie deswegen in die Verbannung geschickt, statt in die Unterwelt, und das war mehr, als sie, glaube ich, verdient hatte. Er ist ein gerechter König und würde einer Hinrichtung nicht zustimmen, solange es noch den Schatten eines Zweifels an der Schuld des Verbrechers
Weitere Kostenlose Bücher