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Die Herrin Thu

Die Herrin Thu

Titel: Die Herrin Thu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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Flasche und ein verstöpselter Krug. Der Seher nahm die Flasche und goß Wasser in die Schale. „Stell dich hier neben mich, aber nicht zu nahe“, befahl er. „Bewege dich nicht und rede auch nicht, es sei denn, du beantwortest Fragen, die ich dir vielleicht stelle.“ Ich tat, was er sagte, und atmete Jasminduft, der mich anwehte, als er den Krug nahm und den Stöpsel herauszog. Das Parfüm in seinem Arbeitszimmer, das alle anderen Düfte übertönte, mußte er an sich gehabt haben. Ich sah ihm zu, wie er behutsam eine kleine Menge Öl auf das Wasser goß, kurz wartete, vermutlich, damit das Öl Zeit hatte, sich zu verteilen, und zum Himmel hochblickte, der rasch zum reinsten Blau verblaßte. Dann beugte er sich über die Schale. Seine Kapuze fiel nach vorn. Seine behandschuhten Hände ergriffen die Seiten des Sockels. „Lob und Ehre sei dir, o Thot“, hörte ich ihn murmeln. „Der du Gott unter dem Allerhöchsten bist, der du urteilst, Verbrechen sühnst, das Vergessene wachrufst. Du, der sich jetzt und immerdar und in alle Ewigkeit erinnert, und dessen Wort ewig währt. Jetzt, Kamen. Langsam und in allen Einzelheiten. Deine Träume von Anfang an. Und nichts auslassen. Du mußt sie beim Sprechen vor dir sehen.“
    Ich fing an und kam mir dabei unbeholfen und albern vor, doch schon bald verflog dieses Gefühl, und meine Stimme wurde fester, vermischte sich mit der lauen Abendbrise, die mir das Gesicht liebkoste und in der Vermummung des Sehers raschelte und so wesenlos wurde, daß die Worte nicht nur aus mir herausströmten, sondern zugleich aus den stillen Bäumen und dem Stein unter meinen Füßen. Bald gab es nichts mehr als meine Stimme und den Traum, und der Traum und die Stimme wurden eins, so daß ich nicht mehr Fleisch war, sondern die Vision eines jungen Mannes, der schwebend zwischen Wirklichkeit und Traum in einem nächtlichen Garten stand.
    Der Seher hob eine Hand und schüttelte den Ärmel seines Umhangs zurück, so daß ich zwischen Stoff und Handschuh ganz kurz sein Handgelenk sehen konnte, und das wirkte aschfarben in dem schwindenden Licht. „Es reicht“, sagte er, „sei still.“ Ich schloß den Mund, und die Welt ringsum nahm wieder ihre vertraute Gestalt an.
    Ich wartete. Ich war daran gewöhnt, lange Zeit stillzustehen, und als der Seher endlich den Kopf hob, mit den Händen die Schale umfaßte und die Finger zur rituellen Abschiedsgeste bewegte, standen schon Sterne am Himmel. Er reckte sich und starrte mich an. „Thot ruft wahrhaftig alles Vergessene wach“, sagte er heiser. Das hörte sich sehr müde an, und beim Sprechen streckte er die Hand aus und tastete nach der Kante des Sockels, als ob er sich stützen müßte. Mein Herz machte einen Satz. Er besaß tatsächlich die Gabe. Er hatte für mich gesehen. Gleich würde er mir alles erzählen, was er wußte. Jetzt hatte ich auf einmal weiche Knie, und ich merkte, daß mir der Rücken weh tat. „Thot, das Zünglein an der Waage“, fuhr er fort und lachte. Es klang humorlos, finster und war eher ein unschönes Bellen. „Mein lieber Offizier Kamen, du bist weitaus interessanter, als mein Bruder sich überhaupt vorstellen kann. Ich muß mich ausruhen. Das Sehen erschöpft mich immer. Komm. Unterhalten wir uns am Springbrunnen.“
    Er wandte sich ab, stolperte, richtete sich wieder auf und ging um das Haus herum, die Hände in den Ärmeln, schnellen Schrittes und mit gesenktem Kopf. Ich folgte ihm, überquerte den Hof und trat durch die niedrige Pforte, bis wir zu der kleinen Lichtung, den Bänken und dem Springbrunnen kamen, der jetzt einen Silberstrahl in die dunkle Schale schickte. Der Gebieter sank auf eine Bank, und ich tat es ihm nach, verkrampft und mit den Händen zwischen den Knien. Ich sah zu, wie er sich allmählich erholte wie ein vertrocknetes, zerdrücktes Blatt, das, ins Wasser geworfen, wieder weich wird. Ich hielt es nicht länger aus.
    „Was hast du gesehen?“ bedrängte ich ihn. „Bitte, Seher, quäle mich nicht mit Rätseln!“ Nach einer Pause nickte er widerstrebend.
    „Ehe ich dir etwas erzähle, beantworte mir eine Frage“, sagte er. „Warum wolltest du Soldat werden? Ein Leben als Nachfolger deines Vaters wäre viel einfacher und nur vernünftig gewesen.“
    Das einzige Licht im Garten kam jetzt vom aufgehenden Mond und dem Sternengefunkel. Der Mann mir gegenüber war im schwindenden Tageslicht immer wesenloser geworden. Er saß reglos wie ein Leichnam, flüchtig wie ein Geist, und unter der tief

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