Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Herrin Thu

Die Herrin Thu

Titel: Die Herrin Thu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
Vom Netzwerk:
Schreibtisch. Ich verneigte mich noch einmal, ließ mich nieder und stellte den Ebenholzkasten auf den Tisch. Jetzt, da der große Augenblick gekommen war, fehlten mir die Worte.
    „Ich bin Waise“, begann ich stockend. „Meine Eltern haben mich adoptiert, als ich gerade ein paar Monate alt war.“ Er stützte einen Ellenbogen auf den Schreibtisch und hielt die Hand hoch.
    „Wir wollen doch keine Zeit verschwenden. Dein Vater ist Men. Und wie du ein ehrlicher Mensch, der mit seiner Abenteuerlust und einem guten Riecher fürs Geschäft ein beträchtliches Vermögen zusammengebracht hat. Meine verläßlichste Quelle für seltene Kräuter und Arzneien. Deine Mutter ist Shesira, eine gute ägyptische Ehefrau, die nichts weiter begehrt als einen friedlichen Haushalt. Du hast eine ältere Schwester, Mutemheb, und eine jüngere, Tamit. Also eine ganz gewöhnliche Familie. Wieso bist du dann in Nöten?“ Die Regeln für eine höfliche Unterhaltung galten ihm offensichtlich nichts. Er kam gleich zur Sache, denn zu seiner Sehergabe gesellte sich eine scharfe Beobachtungsgabe. Zweifellos konnte er in den adligen Kreisen, in denen er verkehrte, glatt wie geschabter Papyrus sein, wobei er kalt abschätzte, wen er vor sich hatte, doch hier, bei seinen Bittstellern, verstellte er sich nicht.
    „Na schön“, sagte ich. „Ich habe sehr glücklich gelebt, es hat mir an nichts gemangelt, bis vor ein paar Wochen, da habe ich angefangen zu träumen.“ Sorgfältig beschrieb ich ihm meine nächtliche Besucherin, die mit Henna bemalte Hand, die dazugehörige Stimme und meine wachsende Überzeugung, daß ich meine wahre Mutter sah und hörte. „Ich weiß nichts über sie oder über meinen wahren Vater“, schloß ich. „Mein Adoptivvater weiß auch nichts.“ Er bemerkte mein Zögern.
    „Du glaubst, daß dein Vater mehr weiß, als er dir erzählt“, sagte er unverblümt. „Hast du ihn zu deiner Herkunft befragt, ehe die Träume angefangen haben?“
    „Nein. Erst der Traum hat die Frage ausgelöst.“ Jetzt platzte ich mit allem heraus: die Unterredung mit meinem Vater, Takhurus scharfsichtige Bemerkungen und ihr Plan, unseren Verlobungsvertrag zu finden, mein eigener Verdacht, alles strömte heraus, während er reglos dasaß und seine außergewöhnliche Aufmerksamkeit auf mich sammelte wie einen Strahl der Mittagssonne.
    „Beschreibe die Ringe an ihrer Hand. Beschreibe die Stimme“, unterbrach er mich. „Beschreibe ihre Handlinien, wenn du kannst. Ich muß klar sehen, was du siehst, damit ich dir helfen kann.“ Ich gehorchte, und dann schwieg ich.
    Er schlug die Beine über, legte die Hände in den Schoß, und ich spürte, wie er sich nach innen zurückzog. Ich wartete und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Inzwischen war draußen die Sonne untergegangen, Re schickte ein schwaches letztes Leuchten durchs Fenster. Rechter Hand konnte ich, ohne ganz den Kopf zu drehen, die kleine Tür neben den beladenen Regalen sehen. Etwas daran war merkwürdig, störte mich, doch ehe ich herausgefunden hatte, was das war, bewegte sich der Seher und seufzte.
    „Dann willst du also nicht in deine Zukunft sehen“, sagte er. „Du möchtest wissen, wer deine Mutter und vielleicht auch dein Vater war. Woher sie gekommen sind. Wie sie ausgesehen haben. Du hast mir eine schwierige Aufgabe gestellt, Offizier Kamen.“ Das deutete ich als eine indirekte Frage hinsichtlich seiner Bezahlung, beugte mich vor und öffnete den Deckel des Ebenholzkastens.
    „Ich habe dir etwas mitgebracht, was mir sehr kostbar ist“, sagte ich, „aber deine Sehergabe ist das Opfer wert. Den hat mein Vater in Libyen erstanden.“ Er schenkte ihm keinen einzigen Blick.
    „Behalte dein Spielzeug“, sagte er, stand auf, ging um den Schreibtisch herum und schob sich im Gehen die weißen Gewänder höher auf die Schulter. „Von dir verlange ich keine Bezahlung. Du hast mir bereits einen großen Dienst erwiesen, auch wenn du natürlich keine Ahnung hast, welchen.“ Ich stand auch auf und trat zurück, als er an mir vorbeiging, denn er sollte mir nicht zu nahe kommen. „Folge mir“, befahl er, und ich gehorchte, bog rechts in den Flur ein, der in den großen, hinteren Garten führte, wo nur noch die Baumwipfel rot gefärbt waren. Ihre Stämme und der Boden ringsum lagen bereits im Schatten.
    Gleich hinter dem Ausgang öffnete sich ein kleiner gepflasterter Hof, in dessen Mitte ein schlichter Steinsockel stand. Auf dem Sockel standen eine Schale, eine große

Weitere Kostenlose Bücher