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Die Herrin Thu

Die Herrin Thu

Titel: Die Herrin Thu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pauline Gedge
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geistesabwesend. Und er trank übermäßig, geisterte nachts durchs Haus und schrie im Schlaf. Das hatte ich in meinem Zimmer am anderen Ende des Ganges gehört. Vielleicht saß er in der Klemme, doch es stand mir nicht zu, ihn danach zu fragen. Seine Verwüstung des Arbeitszimmers wirkte auf mich lediglich wie der Gipfel wochenlanger Nöte, und als er mir von der Rolle erzählte, die er suchte, ging mir ein Licht auf. Wir wußten alle, daß er ein angenommenes Kind war, und wie er hatten wir nicht nach seiner Abkunft gefragt. Warum sollten wir? Warum sollte er? Seine Mutter und seine Schwestern vergötterten ihn, sein Vater liebte ihn, wir Dienstboten, die wir ihn hatten heranwachsen sehen, achteten ihn. Er hatte ein reiches und gutes Leben gehabt, doch jetzt hatte sich alles geändert.
    Nachdem er aus dem Arbeitszimmer gestürmt war, hatte Pa-Bast eine der Hausdienerinnen gerufen, und die hatte unter meiner Anweisung das Zimmer wieder in Ordnung gebracht. Während ich ihr sagte, was sie tun sollte, dachte ich gründlich nach. Kamen hatte gesagt, daß er seinem Vater bei dessen Rückkehr alles beichten würde. Ich selbst hatte keine Angst vor Men. Er war ein gerechter Mann. Doch es lag auf der Hand, daß Kamen nicht wirklich wollte, daß sein Vater erfuhr, was er getan hatte, sonst würde er nicht Mens Abwesenheit abgewartet haben, um die Kästen mit den Rollen zu durchsuchen. Ich hatte vollstes Verständnis für das wachsende Bedürfnis des jungen Mannes, seine Abkunft herauszufinden. Ein guter Sohn hätte vermutlich der Mahnung des Vaters gehorcht und die Sache ruhen lassen, aber ich fühlte mit Kamen. Men handelte unvernünftig. Was konnte Kamens Wunsch schon schaden?
    Als das Arbeitszimmer aufgeräumt und die Tür geschlossen und verriegelt war, machte ich mich auf die Suche nach Pa-Bast. Ich fand ihn in den Küchen hinter dem Haus, wo er sich mit dem Koch unterhielt, der während der Abwesenheit der Familie wenig zu tun hatte. Als er sein Gespräch beendet hatte, zog ich ihn nach draußen. „Ich habe über den Tumult vorhin nachgedacht“, sagte ich. „Es war wirklich nicht mehr als ein Windstoß in der Wüste und rasch vorbei. Kamen hat Sorgen. Ich möchte seine Not nicht noch vergrößern, wenn er sich zu seinen privaten Nöten auch noch das Mißfallen seines Vaters zuzieht. Behalten wir das Geschehene für uns, Pa-Bast. Das Arbeitszimmer ist in Ordnung. Wenn ich nun Kamen um die Rolle bitte, die er genommen hat, und sie morgen zurücklege, könnten wir die ganze Sache dann nicht vergessen?“ Pa-Bast lächelte.
    „Warum nicht?“ antwortete er. „Es ist das erste Mal, daß Kamen hier im Haus ein solches Aufsehen erregt hat, und wie du sagst, ist kein bleibender Schaden entstanden. Ich habe keine Lust auf ein weiteres Unwetter, wenn Men nach Haus kommt und erfährt, daß sein Sohn in einem Anfall von Wahnsinn versucht hat, sein Arbeitszimmer zu verwüsten. Was auch immer Kamen plagt, es muß etwas Schlimmes sein. Wir kennen ihn beide gut.“
    „Es hat etwas mit seiner Abkunft zu tun“, sagte ich. „Wie dumm von Men, daß er ihm diese Informationen vorenthalten will. Ist Kamen erst einmal zufriedengestellt, gibt er auch Ruhe, vergißt die ganze Sache und ordnet sie als Wachstumsschmerzen ein. Weißt du, wer seine leiblichen Eltern waren?“ Der Haushofmeister schüttelte den Kopf.
    „Nein, und ich erinnere mich auch nicht an die Rolle, die Kamen aus der Truhe geholt hat. Er ist mit einer Statuette von Wepwawet abgeliefert worden, die in seine Windeln gewickelt war. Die Rolle muß Men ohne mein Wissen von einem Boten übergeben worden sein. Und du hast recht. Es ist dumm von Men, daß er eine Düne zum Berg werden läßt.“
    „Dann sind wir uns einig?“
    „Ja.“
    Ich hatte nicht das Gefühl, daß ich meinen Arbeitgeber verraten hatte, nein, ich wollte nur nicht, daß sich zwischen Vater und Sohn eine Kluft auftat. Zwar liebten und achteten sie sich, waren jedoch sehr verschieden. Mit Kamen würde ich mich bei seiner Rückkehr unterhalten, die Rolle zurücklegen, und damit Schluß.
    Doch Kamen kam an diesem Tag nicht zurück. Ich schwamm, verzehrte ein leichtes Mahl, schrieb einen Brief an die Papyrushersteller und forderte weitere Blätter und ein Quantum Tusche an. Aus Abend wurde Nacht, und er war noch immer nicht zurück. Am nächsten Morgen stand ich auf und sah sofort in seinem Zimmer nach, aber auf dem Gang kam mir Setau entgegen und sagte mir, daß Kamen nicht da sei. Er hatte nicht daheim

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