Die Herrin von Avalon
schneller schlagen, und das überraschte sie. Dann zwang sie sich zur gewohnten Ruhe und trat aus dem Haus in die Helligkeit eines schönen Sommertages. Kritisch musterte sie die wartenden Priesterinnen.
Crida bemerkte es und schüttelte unwillig den Kopf. »Glaubst du, wir werden dir keine Ehre machen? Warum überhaupt dieser ganze Aufwand? Es ist doch nur ein Römer!«
»Das ist nicht ganz richtig«, erwiderte die Hohepriesterin. »Er entstammt einem Volk, das dem unseren nicht unähnlich ist. Wie so viele junge Männer hat man ihn in das römische Leben hineingepreßt. Außerdem haben ihn die Götter auserwählt ... «
Crida konnte darauf nichts erwidern und zog den Schleier vor ihr Gesicht. Dierna nickte und machte sich mit ihrem Gefolge auf den Weg hinunter ins Tal.
Als sie sich dem Ufer näherten, erwartete sie dort Ceridachos in Begleitung von Lewal, der den Besucher kannte.
Dierna fragte sich, wie der Tor auf den Navarchen wirken würde. Im Laufe der Jahre waren die weiß getünchten Hütten durch gemauerte Häuser ersetzt worden, die sich am Hang drängten. Nur der spiralförmige Prozessionsweg besaß eine Größe, die sich auf ihre Weise mit allen Werken Roms messen konnte. Der Ring der Steine auf dem Gipfel war bereits alt gewesen, als Rom noch aus wenigen Hütten bestand, die verstreut auf den sieben Hügeln standen.
Die Barke von Avalon lag unter den Apfelbäumen am Ufer. Sie stammte aus der Zeit ihrer Mutter und war groß genug, um Menschen und Pferde zu befördern. Sie wurde mit Rudern bewegt und nicht mit Stangen, mit denen das kleine Volk seine leichten Boote durch das Schilf lenkte.
Auf ein Zeichen von Dierna stießen die Ruderer ab, und die Barke glitt lautlos durch das Wasser. Ein heller silbriger Dunst lag über dem See, hinter dem die Berge golden schimmerten. Als sie sich in seiner Mitte befanden, erhob sich die Hohepriesterin. Sie mußte sich nicht lange um Gleichgewicht bemühen, denn das Wasser war spiegelglatt.
Sie sammelte ihre Kräfte und hob die Hände. Ihre Finger bewegten sich, als spinne sie einen unsichtbaren Faden. Die Ruderer hoben ihre Paddel, und die Barke lag wartend auf der Schwelle zwischen den Welten. Die Worte, mit denen man die Nebel rief, fügten sich in ihrem Bewußtsein zu dem heiligen Spruch, der sich in der Wirklichkeit manifestierte und die Welten durch die Bewegungen ihrer Hände miteinander verband. Ihr Atem gewann an Kraft. Sie spürte, wie ihre Stimmbänder in Schwingungen gerieten, obwohl noch kein Ton zu hören war. Dierna schloß die Augen und rief die Göttin. Sie konzentrierte ihre Kräfte auf den einen Willensakt.
Als die Ebenen in Bewegung gerieten, spürte sie den vertrauten Ruck. Sie widerstand der Versuchung, die Augen zu öffnen, denn sie wußte, der Augenblick, in dem sie sich zwischen den Zeiten befanden, war sehr gefährlich. Seit die Hohepriesterin Caillean die Nebelwand zum Schutz Avalons beschworen hatte, waren die geheimen Worte an viele Priesterinnen weitergegeben worden. Doch in jedem Jahrhundert kam es vor, daß eine oder zwei, die bei der Prüfung vor ihrer Weihe ausgeschickt wurden, nicht zurückkehrten. Sie verschwanden, wenn sie versuchten die Nebel zu teilen, und verloren sich zwischen den Welten.
Eine kühle Feuchtigkeit senkte sich plötzlich auf sie herab. Dierna öffnete die Augen und sah graues Wasser und dahinter verschwommen Bäume. Als die Nebel sich teilten, entdeckte sie auch den roten Umhang des Mannes, der am Ufer auf sie wartete.
Teleri war nicht bei ihm.
Sie hat mir noch immer nicht verziehen ...
Bis zu diesem Augenblick hatte Dierna gehofft, Teleri werde ihren Mann begleiten. Aber Teleri hielt nach wie vor die Ehe mit dem Navarchen für eine Art Verbannung.
»Sieh dort das Tal von Avalon«, sagte Dierna, als die Barke zum zweiten Mal die Nebel durchquert hatte und sich langsam der Insel näherte.
Carausius legte kurz die Hand auf die Augen und seufzte tief wie jemand, der aus einem Traum erwacht. Seine Eskorte hatte trotz Widerspruchs am anderen Ufer zurückbleiben müssen, um bei den Pferden zu warten. Aber die Hohepriesterin, die in den Gesichtern der Menschen lesen konnte, hatte die Erleichterung in den Augen gesehen und gewußt, daß auch sie alle möglichen Geschichten über die heilige Insel gehört hatten. Selbst den Fürsten des britonischen Adels war es nur selten erlaubt, die geweihte Erde zu betreten. Die Priesterinnen kamen zu ihnen, um das Land zu segnen.
Carausius hatte die Einladung nicht
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