Die Herrin von Avalon
nicht auf den Wind und versuchst, das Meer in seinen Stimmungen zu begreifen? Du mußt jetzt schweigen und zulassen, daß die Steine zu dir sprechen. Blicke in das Wasser und sage mir, was du siehst ... «
Sie standen sich gegenüber, während der Mond höher stieg. Ihm kam es sehr lange vor, aber Dierna war an solche Nachtwachen gewöhnt, und sie empfand diese Zeiten als willkommene Unterbrechung der Mühen des Alltags. Er war zu fest mit der Welt verbunden, um sich schnell aus dem Netz der Pflichten zu lösen, in das er sich in diesem Leben verstrickt hatte.
Die Stille breitete sich langsam in der Seele aus. Dierna wurde immer deutlicher bewußt, daß sie diesem Mann in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort schon einmal an einem Altar gegenübergestanden hatte.
Dann sah sie, wie er schwankte. Er sank nach vorn und umklammerte den Stein, während er in die Schale starrte. Sein Kopf neigte sich immer tiefer, als werde er in das Wasser hineingezogen. Dierna legte die Hände auf seine Hände, damit er das Gleichgewicht nicht verlor und die Kraft ertrug, die ihn pulsierend durchströmte. Sie blickte mit ihm in das Wasser, und als Bilder darin auftauchten, wußte sie, daß sie beide dasselbe sahen.
Mondlicht lag auf dem Wasser. Sie sah eine Insel, an deren Ufer sich silberglänzende Wellen brachen. Dierna hatte die Insel in diesem Leben noch nie gesehen. Doch sie erkannte ihre Ringform, die fruchtbaren Felder am Ufer und die Schiffe im geschützten Hafen. Das Land umschloß seinerseits Wasser, in dessen Mitte sich eine zweite Insel befand. Sie stieg in Stufen und Terrassen an und war gekrönt von Tempeln, die blaß im Mondschein glänzten. Diese Insel war etwa so groß wie das ganze Tal von Avalon, doch ihre Umrisse waren die des heiligen Tors, auf dem sie sich befanden. Es war das alte Land, die Mutter der Mysterien. Dierna wußte, es war Atlantis, von dem die Wissenden, die Lehrer der Druiden hatten fliehen müssen, als es im Wasser versunken war.
Ihr Standort veränderte sich. Sie blickte von einer Terrasse mit einer Marmorbalustrade über die Insel. Neben ihr stand ein Mann. Tätowierte blaue Drachen wanden sich um seine Unterarme. Er trug das goldene Sonnendiadem auf dem Kopf. Die runde Scheibe leuchtete im Mondlicht silbern. Er hatte dunkle Haare und ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht. Sie kannte die Seele, die ihr aus seinen Augen entgegenblickte.
Er öffnete den Mund und flüsterte: »Du bist das Herz des Feuers!«
Unerwartet drangen diese Worte tief in ihre Seele ein. Sie wollte ihm antworten, sich ihm offenbaren. Er griff nach ihren Händen, aber plötzlich kam eine Flutwelle, die alles verschlang und über ihnen zusammenschlug.
Mit pochendem Herzen kämpfte Dierna mit der eisernen Disziplin ihrer Ausbildung darum, nicht in Panik zu geraten. Als sie schließlich aus der Trance auftauchte, sah sie Carausius auf allen vieren vor dem Altar. Die Silberschale war umgefallen, und das Wasser lief über den Stein. Sie eilte an seine Seite.
»Du mußt langsam und ruhig atmen«, flüsterte sie und legte die Hände auf seine Schultern, bis das heftige Zucken nachließ. »Sag mir, was hast du gesehen?«
»Eine Insel ... im Mondlicht ... « Er richtete sich auf und betastete ungläubig seine Arme. Dann sah er sie an. »Ich glaube, du warst auch da ... « Er schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht mehr erinnern ... «
Dierna seufzte. Sie wollte ihn in die Arme schließen, so wie sie es mit dem anderen vor langer Zeit getan hatte. Aber sie durfte ihm nicht verraten, daß diese Verbindung zwischen ihnen bestand, wenn er es nicht wußte. Sie verstand die Bedeutung der Vision selbst nicht, sondern nur die Gefühle, die mit den Bildern erwacht waren. Sie hatte diesen Mann geliebt. Sie dachte an die Zeit seit ihrer ersten Begegnung in diesem Leben, und ihr wurde bewußt, daß sie ihn noch immer liebte. Sie war eine Priesterin und hatte gelernt, Herz und Willen unter Kontrolle zu behalten. Auch für die Männer, die mit ihr ihre Kinder gezeugt hatten, empfand sie nie mehr als Achtung und die körperliche Leidenschaft des Rituals. Trotzdem fragte sie sich jetzt benommen: Wie konnte ich nur so blind gewesen sein?
»Du warst der König des Meeres«, sagte sie ruhig. »Das war vor langer Zeit in einem Land, das versunken ist. Britanniens Schutz ist schon immer das Meer gewesen. Hier auf der heiligen Insel hat ein Teil der alten Tradition überlebt. Ich glaube, du bist wiedergeboren worden, um der alten
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