Die Herrin von Avalon
Das goldene Korn ist geerntet. Die reifen Früchte sind gesammelt. Die Winternahrung ist im sicheren Speicher.«
»Der Herbstwind reißt das Blatt vom Baum. Über die kahlen Felder weht die Spreu. Auf die Wärme des Sommers folgt der kalte Winter. Auch du veränderst dich, und nun wirst du alt. Während Blatt und Zweig in Schlaf versinken, springen die roten Hirsche durch die Wälder. Wenn der Wind das Blut in den Adern summen läßt, ist es Zeit für mich, die Herrschaft anzutreten. Deine Ernte ist eingebracht, deine Kinder sind erwachsen. Es ist Zeit, daß die Dunkelheit siegt und der Winter über die Welt herrscht.«
»Ich werde dir die Herrschaft nicht übergeben!«
»Ich werde sie mir nehmen!«
Ana stand auf. Sie war zwar nicht die Göttin, doch sie umgab sich mit der Erhabenheit der Priesterin, und sie wirkte so groß wie er.
»Dunkler Jäger, ich mache dir einen Vorschlag.«
Man hörte überraschtes Gemurmel.
»Zur Zeit herrscht Friede, aber ich habe gesehen, daß die Feinde Britanniens noch einmal gegen unser Land ziehen werden. In dieser heiligen Stunde, in der unsere Macht gleich groß ist, biete ich mich dir an, damit wir ein Kind zeugen, das Britannien vor seinen Feinden retten wird.«
Er sah sie an. Dann warf er den Kopf zurück und lachte.
»Weib, ich bin so unaufhaltsam wie das fallende Laub oder der letzte Atemzug. Du kannst nicht mit mir verhandeln. Ich werde nehmen, was du mir gibst, doch was folgt, steht bereits in den Sternen geschrieben und kann nicht geändert werden.«
Der Speer verharrte über ihrer Brust. Als der Gehörnte sich auf sie zu bewegte, fiel der Feuerschein auf den Körper der Hohepriesterin, und Viviane sah voll Mitleid die herabhängenden Brüste und auf der weichen Haut ihres Leibs die silbernen Narben - die Zeichen der vier Geburten.
»Mutter!« Sie rang sich die Worte ab. »Warum tust du das? Das gehört nicht zum Ritual ... «
Ana sah sie an, und Viviane hörte wie ein Echo ihre Worte. » Ich nenne nie die Gründe für mein Handeln ... «
Die Hohepriesterin verzog spöttisch die Lippen und wandte sich wieder dem Gehörnten zu.
»Vom Frühling zum Sommer«, sagte sie und machte einen Schritt vorwärts. »Vom Sommer zum Herbst schenke ich Leben und Licht.«
Der Speer beschrieb einen Kreis, und die Spitze bohrte sich dann in die Erde.
»Vom Herbst zum Winter«, erwiderte er, und die Menschen atmeten erleichtert auf, weil sie die vertrauten Worte wiedererkannten, »vom Winter zum Frühling sind Nacht und Ruhe die Geschenke, die ich bringe.«
»Dein Aufstieg ist mein Niedergang.« Sie standen voreinander. »Alles was du verlierst, ist mein Gewinn. Wir sehnen uns, ohne zusammenzukommen. Wir finden uns immer wieder ein und vereinigen uns im Großen Tanz.«
Sie umarmten sich. Als sie sich voneinander lösten, hatte ihn die Leidenschaft übermannt. Der Gehörnte nahm die Herrin auf die Arme und trug sie als seine Beute, als seine Geliebte, davon. Sein tiefes Lachen hallte durch die Nacht. Im nächsten Augenblick waren sie verschwunden. Nur der Speer stand aufgerichtet vor dem leeren Thron.
Nectan blickte auf die verwirrten Gesichter, räusperte sich und versuchte, den Rhythmus des Rituals wiederzufinden.
»Die goldene Zeit des Sommers ist mit der sinkenden Sonne vorüber. Verliert die Hoffnung nicht, denn nach dem Schnee und Regen des Winters werden die Freuden des Sommers wiederkommen! Alles, was jetzt gefangen ist, wird dann befreit. Das Rad der Jahreszeiten dreht sich unaufhörlich weiter! Die Macht der Veränderung ist nach dem Willen der ewigen Ordnung frei zu tun, was geschehen soll und muß. So wie wir das Leben wollen, so lassen wir dem Schicksal seinen Lauf.«
Was hat Ana gewollt , fragte sich Viviane und blickte nachdenklich in das Dunkel, in dem sie und der Gehörnte verschwunden waren. Was wird nach dieser Nacht geschehen?
Das Jahr näherte sich der Mitte des Winters. Das Gefühl der Angst, das die Gemeinschaft von Avalon seit Samhain beherrschte, schwand allmählich, denn das Wetter blieb für die Jahreszeit weiterhin mild und klar. Alle waren der Meinung, das Opfer der Herrin sei angenommen worden und die vorausgesagte Katastrophe sei abgewendet, denn bald zweifelte Ana nicht mehr daran, daß sie ein Kind erwartete.
Die Priester und Priesterinnen stellten alle möglichen Vermutungen an. Es kam oft vor, daß Kinder geboren wurden, deren Eltern sich an Beltane von den Feuern entfernt hatten. Doch Samhain war trotz der Anwesenheit der Ahnen kein
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