Die Herrin von Avalon
manchen Gelegenheiten kamen sie zusammen - bei den Festen und zu jenen Dingen, die Mädchen und Jungen gleichermaßen lernen mußten.
»Ich weiß, daß ihr alle die Namen der sieben Inseln von Avalon kennt, aber könnt ihr mir auch sagen, warum jede von ihnen heilig ist?«
Cailleans Frage riß Gawen aus seinen Gedanken. Er richtete sich verwirrt auf. Es war mitten im Sommer, und das Land lag im schläfrigen Frieden des späten Nachmittags. In dieser Jahreszeit lebten die meisten Bewohner von Avalon im Freien. Die Hohepriesterin hatte sich zum Unterricht mit ihren Zöglingen unter die große Eiche gesetzt, die dicht am Ufer stand.
Gawen staunte über Cailleans Frage, denn die Antwort darauf kannten sie schon als Kinder. Warum bestand sie gerade heute auf der Wiederholung altbekannten Wissens?
Nach einem Augenblick überraschten Schweigens hob Dica die Hand. Aus dem mageren, vorlauten Mädchen war eine schlanke junge Frau geworden. Dichte rötlichblonde Locken betonten die Anmut ihres intelligenten, scharf geschnittenen Gesichts. Dica konnte mit ihren spitzen Bemerkungen manchmal auch verletzend sein, aber an diesem Tag hatte sie offenbar nichts Provozierendes im Sinn.
»Die erste ist Inis Vitrin, die gläserne Insel. Auf ihr befindet sich der heilige Tor«, antwortete sie.
»Und warum heißt die Insel so?« wollte Caillean wissen.
»Weil ... man sagt, aus der Sicht der anderen Welt ist sie so durchsichtig wie römisches Glas.«
Entsprach das der Wahrheit?
Gawen hatte sich so weit entwickelt, daß er inzwischen zu Ausflügen in die innere Welt in der Lage war. Er empfand das wie eine Art Wachtraum. Er durfte jedoch noch nicht seinen Körper verlassen und die äußere Welt mit dem geistigen Auge betrachten.
»Sehr gut«, sagte Caillean. »Und wie heißt die nächste Insel?« Ihr Blick richtete sich auf eines der neueren Mädchen. Sie hieß Breaca, hatte schwarze Haare und kam aus Dumnonia.
»Die zweite ist die Insel der Briga. Sie ist heilig, dem Aussehen nach eher flach. Dort kommt die Göttin als Mutter mit der neugeborenen Sonne zu uns.« Das Mädchen errötete, aber ihre Stimme klang klar und fest.
Gawen räusperte sich. »Die dritte ist die Insel des geflügelten Gottes und befindet sich in der Nähe der größten Siedlung des kleinen Volkes. Dem Gott sind die Wasservögel heilig, und niemand darf sie in der Nähe seines Heiligtums töten. Zum Dank läßt kein Vogel etwas auf die Dächer der Hütten fallen.«
Gawen war öfter mit der Fee dort gewesen und hatte sich davon überzeugen können, daß es wirklich so war. Unwillkürlich richtete sich sein Blick auf Sianna, die wie üblich hinter den anderen saß, wenn die Hohepriesterin sie unterrichtete. Caillean nickte zufrieden über seine Antwort, aber als sie seinen Blick bemerkte, runzelte sie die Stirn.
»Und wie heißt die vierte?« fragte sie schnell.
Tuarim, ein stämmiger kleiner Junge, den die Druiden im Vorjahr als Novizen aufgenommen hatten und der Gawen als Vorbild verehrte, gab die Antwort.
»Die vierte ist die Insel der Sümpfe, die alle bösen Kräfte von Avalon fernhält.«
»Die fünfte ist die Insel im Teich. Dort befindet sich ebenfalls eine Siedlung des kleinen Volkes«, sagte der siebzehnjährige Ambios, der bald von den Druiden in die Gemeinschaft der Priester aufgenommen werden sollte. Meist hielt er sich von den Jüngeren fern, aber diesmal fand er es offenbar angebracht, sein Wissen unter Beweis zu stellen. Er sprach weiter: »Auf dieser Insel befindet sich eine heilige Quelle unter einer uralten, riesigen Eiche. In jedem Jahr hängen wir Opfergaben an ihre Äste.«
Gawen fand es erstaunlich, daß Sianna beharrlich schwieg, denn sie hatte schon um diese Dinge gewußt, als sie sprechen lernte. Vielleicht schwieg sie gerade deshalb, dachte er, als er ihre niedergeschlagenen Augen und die gefalteten Hände sah. Ein leichter Wind strich durch den Baum. Das Sonnenlicht tanzte auf den Blättern und spielte in Siannas blonden Haaren.
Ich habe noch nicht gesehen, wie das Licht durch die gläserne Insel fällt , dachte er, aber ich sehe das Licht in dir leuchten ...
Siannas Schönheit war etwas, das in sich selbst ruhte. Er brachte sie kaum mit dem Mädchen in Verbindung, mit dem er vor Jahren gespielt hatte, bevor sie zu einer Frau geworden war, mit der er nicht mehr ohne Aufsicht zusammensein durfte. An dem Zauber, der von ihr ausging, gab es keinen Zweifel. Unwillkürlich dachte er an einen Reiher, der im frühen Morgenlicht
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