Die Herrin von Avalon
Öllämpchen an der Wand flackerte im Wind. Der Mönch half Vater Joseph, sich aufzurichten, und stützte seinen Rücken mit ein paar Kissen. Dann brachte er für die Hohepriesterin einen Hocker.
Er sieht wirklich wie ein Vogel aus , dachte Caillean und griff nach Vater Josephs Hand. Sein eingefallener Oberkörper bewegte sich kaum. Alles Leben, das ihn noch auf dieser Erde hielt, befand sich in seinen Augen.
»Mein lieber alter Freund«, sagte sie mit leiser Stimme. »Wie geht es dir?«
Etwas, das an ein Lachen erinnerte, kam über seine Lippen. »Herrin von Avalon, du hast doch bestimmt genug Wissen, um das klar und deutlich zu sehen ... « Vater Joseph las in ihren Augen die Antwort, die sie ihm nicht geben wollte, und lächelte. »Ist es euch Priesterinnen nicht möglich, zu wissen, wann eure Zeit gekommen ist? Ich werde nicht mehr lange warten müssen, und damit bin ich zufrieden. Ich werde endlich meinen Herrn wiedersehen ... «
Er verstummte; sein Blick hatte sich nach innen gewandt, und er lächelte. Schließlich seufzte er tief, und seine Augen richteten sich wieder auf Caillean.
»Mir werden unsere Gespräche fehlen. Es sei denn, daß ein alter Mann auf dem Totenbett dich überzeugen kann, Christus als Herrn zu dienen. Wenn nicht, werden wir beide bis zum Ende aller Zeiten warten müssen, bis wir uns wiederbegegnen.«
»Auch mir werden die Gespräche mit dir fehlen«, erwiderte Caillean und unterdrückte die Tränen. »Vielleicht werde ich in einem anderen Leben deinem Glauben folgen. In diesem habe ich meinen Göttern Treue geschworen ... «
»Ja, es stimmt. Niemand kennt seinen Weg, bevor er das Ende erreicht hat«, flüsterte Vater Joseph. »Als die große Veränderung in meinem Leben eintrat, war ich kaum jünger als du ... « Er schwieg und schien seine Kräfte zu sammeln. Und seine Stimme klang tatsächlich fester und klarer, als er schließlich fortfuhr: »Es würde mir helfen, wenn ich dir die Geschichte erzählen dürfte, natürlich nur, wenn du sie hören möchtest.«
Caillean lächelte und nahm die ausgestreckte Hand in ihre. Sie war so leicht und so durchsichtig, daß man hätte glauben können, das Licht scheine hindurch. Eilned und Riannon hofften zwar, sie werde bald zurückkommen, denn sie wollten mit ihr über die Neuankömmlinge sprechen, aber all das konnte warten. Nichts war lehrreicher, als zu erfahren, wie jemand seinen Weg gefunden hatte. Außerdem gab es keinen Zweifel daran, daß Vater Joseph nicht mehr viel Zeit blieb.
»Ich war ein Kaufmann in Judäa. Das liegt im östlichen Teil des Römischen Reichs. Meine Schiffe fuhren überall hin, selbst in die Häfen von Dumnonia, denn ich handelte mit Zinn, und ich wurde sehr reich.« Nach einem tiefen Atemzug fuhr er fort: »Damals dachte ich nur an die alltäglichen Dinge. Nur in meinen Träumen erinnerte ich mich manchmal an das versunkene Land, und dann sehnte ich mich nach dem verlorenen Wissen. Aber im Morgengrauen hatte ich alles wieder vergessen. Ich lud jeden an meine Tafel, der sich in seinem Können hervortat. Eines Tages sprach die ganze Stadt von dem neuen Lehrer aus Galiläa, den sie Jesus nannten. Ich lud auch ihn in mein Haus.«
»Wußtest du damals schon, daß er ein Sohn des Lichts war?« fragte Caillean. Die Götter sprachen stets zu den Menschen. Und in jedem Zeitalter, so hieß es, schickte der Himmel einen der Vollkommenen auf die Erde, um zu den Menschen zu sprechen. Aber, und das wußte Caillean auch, es waren immer nur wenige in der Lage, zu hören, was er sagte.
Vater Joseph schüttelte den Kopf. »Ich fand die Worte des Herrn wohltuend, aber damals entstand kein enges Band zu ihm. Das alte Wissen blieb mir verschlossen. Ich sah jedoch, daß er die Menschen mit neuer Hoffnung erfüllte. Ich gab seinen Anhängern Geld. Außerdem erlaubte ich ihnen, ihre Feste in meinem Haus zu feiern. Ich war nicht in Jerusalem, als man ihn gefangennahm. Bei meiner Rückkehr hing er bereits am Kreuz. Ich eilte zur Hinrichtungsstätte, denn man hatte mir gesagt, seine Mutter sei dort. Ich wollte ihr meine Unterstützung anbieten.«
Die Erinnerung überwältigte ihn. Caillean sah, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Gawen spürte das Ausmaß der Gefühle, auch wenn er sie nicht verstand, und stellte eine Frage, um das Schweigen zu brechen.
»Was für eine Frau war sie ... seine Mutter?«
Vater Josephs Blick richtete sich auf den Jungen.
»Sie war wie eure Göttin, wenn sie im Herbst Tränen vergießt, weil der Gott
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