Die Herrin von Avalon
mit dem zu verbinden, was bei ihnen bereits in Vergessenheit geraten war.
»Das Wasser ist ein Spiegel«, sagte Caillean leise. »Dort kannst du Dinge sehen, die in Ort und Zeit weit entfernt sind. Begib dich jetzt auf den Gipfel des Tors, sag mir, was du siehst ... «
Sianna atmete noch langsamer und tiefer. Caillean glich ihre Atemzüge an und lockerte ihre Kontrolle etwas, um Siannas Sehen zu begleiten, aber sie trennte nicht den eigenen Kontakt zur äußeren Welt.
»Ich sehe ... den Ring der Steine ... die Sonne scheint ... das Tal liegt unten ... ich sehe Spuren ... leuchtende Wege, die durch die Inseln führen ... das Leuchten der Straße von Dumnonia bis zum Meer im Osten ... «
Durch halb geschlossene Lider sah Caillean aus der Vogelperspektive den Tor, die Wälder und Felder und darunter die hellen Linien der Kraft. Sie hatte sich nicht getäuscht, auch Sianna konnte die innere und die äußere Welt gleichzeitig sehen.
»Sehr gut ... « flüsterte sie, aber Sianna sprach weiter.
»Ich folge dem Licht nach Norden ... es führt mich nach Alba ... Rauch steigt auf ... die Grenzen sind blutgetränkt ... es ist zum Kampf gekommen ... die Raben sitzen auf den Toten ... «
»Die Römer ... « Caillean holte langsam tief Luft.
Als die Nachricht von der Rebellion der Stämme nach Avalon gekommen war, hatten sich die Druiden bereit erklärt, die Krieger mit ihrer Macht zu unterstützen. Die Priesterinnen wollten nicht zurückstehen. Caillean erinnerte sich an die erste Welle der Hoffnung bei der Aussicht, die verhaßten Römer endlich aus dem Land zu treiben. Aber dann hatten sich Zweifel gemeldet. Durfte Avalon seine Macht auf diese Weise anwenden?
»Ich sehe Römer und Britonen ... sie kämpfen verbissen ... « Siannas Stimme bebte.
»Wer hat den Kampf gewonnen?« fragte Caillean. Druiden und Priesterinnen hatten die Kräfte freigesetzt, die ihnen zur Verfügung standen. Sie hörten bald darauf, daß es zu einer Schlacht gekommen war. Danach verstummten jedoch alle Nachrichten. Wenn die Römer über die Lage informiert waren, dann verhinderten sie, daß die Nachricht sich verbreitete.
»Die Raben machen keinen Unterschied zwischen Römern und Britonen ... sie sitzen auf allen Leichen ... Siedlungen sind zerstört, und die Flüchtenden ziehen ziellos durch das Land ... «
Die Hohepriesterin richtete sich nachdenklich auf. Wenn die Stämme den Kampf verloren hatten, sahen die Römer in dem Aufstand nur das übliche, aber belanglose Zeichen des Aufbegehrens. Wenn die Stammeskrieger wider Erwarten die römischen Truppen vernichtet hatten, mußte Rom möglicherweise Britannien aufgeben. Ein Kampf ohne richtigen Sieger würde die Römer jedoch nur reizen und zu grausamen Vergeltungsmaßnahmen führen.
»Gawen, wo bist du?« flüsterte Sianna zitternd.
Caillean hielt den Atem an. Sie wußte durch ihre Informanten, daß der Junge zu seinem Großvater nach Deva gegangen war und anschließend zur Neunten Legion nach Eburacum geschickt wurde. Seit dieser Zeit befürchtete Caillean, daß Gawen in die Kämpfe hineingezogen worden war. Wie konnte Sianna davon wissen? Caillean hatte nicht die Absicht gehabt, ihn von Sianna suchen zu lassen, aber sie wußte, daß zwischen den beiden eine Verbindung bestand. Sie zögerte, aber sie durfte die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, um vielleicht etwas Wichtiges über Gawen herauszufinden.
»Öffne dich deinem inneren Blick«, flüsterte sie. »Laß dich von deinem Herzen dorthin führen, wo er ist.«
Augenblicklich ging eine noch größere Ruhe und Konzentration von Sianna aus. Ihre Augen richteten sich auf den Wirbel aus Licht und Farben in der Schale.
»Er flieht ... «, flüsterte sie schließlich. »Er sucht den Weg nach Hause ... aber das Land ist voller Feinde ... Herrin, nutze deine Macht, um ihn zu schützen!«
»Das ist mir nicht gegeben«, erwiderte Caillean tonlos. »Er hat sich von mir ... von uns ... losgesagt. Er muß aus eigener Kraft zu mir ... zu uns zurückfinden. Wir können nur die Götter bitten, ihm beizustehen.«
»Wenn du ihm nicht helfen kannst, dann bleibt nur meine Mutter, die zwar nicht so mächtig wie die Göttin ist, aber trotzdem vieles bewirken kann.«
Sianna richtete sich auf. Das Wasser in der Schale wurde augenblicklich dunkel.
»Mutter!« rief sie. »Gawen ist in Gefahr! Mutter ... hilf dem Mann, den ich liebe!«
Gawen fuhr erschrocken zusammen und setzte sich auf. Er lauschte mit angehaltenem Atem. Ein geheimnisvolles Flüstern
Weitere Kostenlose Bücher