Die Herrin von Avalon
drang über die Heide. Es wurde lauter. Kalte Luft strich über seine Wange. Mit einem erleichterten Seufzer sank er wieder zurück. Es war nur der Wind, der in den letzten drei Tagen bei Sonnenuntergang aufkam.
Gawen war seit der Schlacht auf der Flucht. Die siegreichen Kelten zogen beutemachend durch das Land. Vor ihnen mußte er sich ebenso verstecken wie vor den versprengten Legionären. Und jeder Viehhirte, der ihn sah, konnte ihn verraten. Er überlebte, indem er kleine Tiere fing und sich etwas zu essen aus den Vorratshütten der Bauern stahl. Die Tage und Nächte wurden bereits merklich kälter. Aber das Wetter war nicht seine größte Sorge, denn er hatte bei der Fee gelernt, in der freien Natur zu leben. Hier im Norden war er einer der vielen, die nach dem Kampf umherirrten und denen von beiden Seiten Gefahr drohte. Weiter im Süden würde man ihn als Deserteur und Verräter betrachten.
Gawen zog frierend den Umhang fester um sich. Zweifel und Fragen, auf die es keine Antworten gab, stiegen in ihm auf. Gab es auf dieser Welt einen Platz, an dem er in Sicherheit leben konnte? Würde er mit seinem römischen und keltischen Erbe in Avalon ein wirkliches Zuhause finden?
Müde und hungrig sah er auf das letzte Licht, das im Westen der Dunkelheit wich, und spürte, wie seine Hoffnung schwand.
In dieser Nacht träumte er von Avalon. Auf dem Tor hatten sich bei hellem Mondschein die Jungfrauen zum rituellen Tanz versammelt. Er sah viele neue Gesichter, an die er sich nicht erinnern konnte. Sehnsüchtig hielt er nach Sianna Ausschau. Die festgelegten Figuren des Tanzes ließen ein geheimnisvolles Spiel von Licht und Schatten im Ring der Steine entstehen. Das Gras schien die Bewegungen mit einem schimmernden Wogen zu begleiten, als habe der Tanz die Kräfte beschworen, die im Hügel schlummerten.
» Sianna! « rief Gawen, aber er wußte, daß sie ihn nicht hören konnte. Doch der Name war kaum über seine Lippen gekommen, als eine der Tänzerinnen stehenblieb. Sie drehte sich um und streckte die Arme nach ihm aus. Es war Sianna. Er erkannte den schlanken Körper, den anmutig zur Seite geneigten Kopf und die glänzenden blonden Haare. Hinter ihr bemerkte er plötzlich die schattenhafte Gestalt ihrer Mutter, der Fee. Während er die beiden Frauen ansah, wurde der Schatten immer größer und verwandelte sich schließlich in ein Tor der Dunkelheit. Gawen erschrak, denn er fürchtete, von der Finsternis verschlungen zu werden. Aber dann hörte er aus weiter Ferne die Worte der Fee.
» Der Weg zu allem, was du liebst, führt über mich ... «
Im Morgengrauen erwachte er frierend und steif, aber seltsamerweise war seine Hoffnungslosigkeit verschwunden. In der ausgelegten Schlinge hatte sich ein junger Hase gefangen. Das Fleisch stillte seinen Hunger. Gegen Mittag entdeckte er weiter unten im Tal eine kleine Quelle. Er löschte seinen Durst und machte Rast. Dann aber verließ ihn das Glück. Er hätte aus Vorsicht sofort weiterziehen müssen, aber die Sonne kam hinter den Wolken hervor. Es wurde angenehm warm, und er war müde. Er lehnte sich gegen den Stamm einer Weide, schloß die Augen und schlief ein.
Als er aufwachte, hörte er außer dem Wind und der murmelnden Quelle noch etwas anderes - die Stimmen von Männern und das vertraute Geräusch der mit Nägeln beschlagenen Sandalen. Im nächsten Augenblick sah er sie durch das Laub hindurch - römische Soldaten. Diesmal waren es allerdings keine besiegten Legionäre, die ziellos und entmutigt durch das Land irrten. Unverkennbar näherte sich eine Patrouille unter dem Kommando eines Centurio.
Sie würden erkennen, daß er eine Militärtunika trug, und schnell herausfinden, daß er ein Deserteur war. Er mußte fliehen und sich verstecken! Hinter ihm stieg das Gelände steil an. Der Hang war mit niedrigen Bäumen und Büschen bewachsen. Auf allen vieren kroch Gawen davon und suchte Schutz unter den Zweigen. Aber er kam nicht sehr weit. Sie wurden auf ihn aufmerksam. Jemand rief mit lauter Stimme und befahl ihm stehenzubleiben. Als er nicht reagierte, zischte eine Lanze durch die Luft und bohrte sich neben ihm in die Erde. Gawen griff danach und schleuderte sie, ohne nachzudenken, zurück. Er hörte jemanden fluchen und rannte weiter. Zu spät wurde ihm klar, daß sie ihn nun verfolgen würden, selbst wenn sie das vielleicht nicht vorgehabt hatten.
Schon glaubte er, ihnen entkommen zu können, als er plötzlich vor einem Abgrund stand. In der Tiefe sah er dunkle
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