Die Herrin von Rosecliffe
wütete. Warum? Warum nur? Es war so ungerecht! Isolde ließ den Stift fallen und trommelte mit den Fäusten auf die beiden Skizzen des guten und des bösen Rhys ein.
»Isolde ... «
Keuchend wirbelte sie auf dem Absatz herum. Rhys stand auf der Schwelle. In ihrer ohnmächtigen Wut hatte sie nicht einmal gehört, dass er die Tür aufgeschlossen hatte. Sein Blick schweifte von ihr zu den Zeichnungen an der Wand.
»Was willst du hier?«, murmelte Isolde.
Rhys seufzte, und ihr fiel plötzlich auf, wie erschöpft er aussah. Tränen brannten in ihren Augen, während sie leise wiederholte: »Was willst du von mir, Rhys?«
Anstatt zu antworten, betrachtete er ihre erste Skizze. »Bin ich das?«
Isolde zuckte mit den Schultern. »Manchmal.«
»Manchmal?«
Sie konnte ihm nicht in die Augen schauen. »Manchmal ... manchmal bist du sanft ... freundlich ... rücksichtsvoll ... «
»Und die zweite Zeichnung?«, fragte er nach kurzem Schweigen. »Bin das auch ich?«
Isolde nickte.
»Wenn ich zornig oder grausam bin? Wenn ich schwöre, deine Familie zu töten?«
Sie schloss die- Augen. »Darüber kann ich mit dir nicht sprechen ... Bitte geh, Rhys! Lass mich allein!«
Aber er ging nicht. »Ich bin keiner der beiden Männer, die du gezeichnet hast, Isolde, sondern eine Mischung - weder ganz gut noch ganz böse.«
Isolde wandte sich ihm endlich zu. »Das weiß ich.«
Rhys breitete die Arme aus. »Dann zeichne mich so, wie ich wirklich bin.«
Er setzte sich auf einen Schemel am Fenster und erinnerte Isolde in diesem Augenblick fast an ein trotziges Kind. Doch sein kantiges Gesicht war das eines Mannes - des Mannes, in den sie sich gegen ihren Willen verliebt hatte. Und sie wollte ihn zeichnen, denn schon morgen könnte es dafür zu spät sein ...
Seufzend nahm sie ein Stück kostbares Pergament zur Hand, das sie für besondere Gelegenheiten aufbewahrt hatte, nahm im Schneidersitz auf ihrer Matratze Platz und blickte zu ihm auf. »Dreh dein Gesicht ins Licht!«
Rhys schaute ihr lange in die Augen, bevor er gehorchte. »Ist es so richtig?«
»ja.« Isolde tauchte eine Gänsefeder ins Tintenfass und machte sich an die Arbeit. Rabenschwarzes Haar, schwarze Augen ... Auch in seiner Seele herrschte die Dunkelheit vor, aber sie hatte vereinzelte Lichtstrahlen darin erblickt, und die wollte sie auf ihrer Zeichnung verewigen. Endlich war sie mit ihrem Werk halbwegs zufrieden, legte die Feder beiseite und lehnte sich erleichtert zurück. Wenigstens diese Erinnerung würde ihr jetzt bleiben, ganz gleichgültig, wie der morgige Tag endete ...
»Darf ich mein Porträt sehen?«, fragte Rhys.
Sie hielt das Pergament hoch. »Du sitzt sehr gut Modell - viel besser als meine Schwester Gwen, die ständig zappelt und ... « Isolde verstummte mitten im Satz, als ihr einfiel, dass ihre Familie für Rhys ein rotes Tuch war.
Er runzelte aber nur leicht die - Stirn. »Eine ausgezeichnete Arbeit ... Wie ich schon oft gesagt habe - du besitzt ein seltenes Talent.« Rhys räusperte sich laut und stand vom Hocker auf. »Du kannst zum Abendessen in die Halle kommen.«
Auch sie stand auf. »Ist das ein Befehl, oder darf ich frei entscheiden?«
Ihre Blicke trafen sich, und sofort bekam Isolde rasendes Herzklopfen.
»Die Entscheidung liegt bei dir.«
Dann verließ er das Turmzimmer, aber seine Worte hallten in Isoldes Kopf wider. Die Entscheidung liegt bei dir ... Es war zum Lachen - oder zum Weinen! Sie hatte von Anfang an keine freie Entscheidung treffen können, weil ihr Herz diesem Mann hoffnungslos verfallen war ...
Kapitel 24
Es regnete die ganze Nacht. Als am frühen Morgen die Glocken zur ersten Gebetsstunde läuteten, war Josselyn schon seit zwei Stunden auf den Beinen. Sie hatte aus Sorge um ihre Familie kaum geschlafen, sondern gebetet Pläne geschmiedet und wieder verworfen. Ihr Mann durfte, nicht gegen Rhys kämpfen - und ihr Schwager Jasper auch nicht. Aber wie sollte sie die beiden Brüder davon abhalten? Männer waren leider daran gewöhnt sofort zu den Waffen zu greifen, wenn sie selbst oder Menschen, die sie liebten und beschützen wollten, bedroht wurden. Josselyn musste zugeben, dass Rand allen Grund hatte, zornig zu sein. Wenn sie ihn nur überreden könnte, trotzdem abzuwarten ...
Doch was, wenn sie selbst sich in Bezug auf Rhys irrte? Was, wenn dieser Rebell, der seit zwanzig Jahren auf Rache sann, seinen Hass auf ihre Familie an Isolde ausließ?
Ein Schauer lief Josselyn über den Rücken. Sie hatte Angst um
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