Die Herrin von Rosecliffe
Mal getroffen hatten, war etwas Unerklärliches vor sich gegangen: eine plötzliche Vertrautheit so als hätten sie sich schon ein Leben lang gekannt.
Jedenfalls hätte sie es so empfunden.
Bedauerlicherweise hatte sie keine Ahnung, ob Reevius ihre Gefühle teilte, und solang er der Halle fernblieb, hatte sie keine Möglichkeit das herauszufinden.
Isolde stieß wieder einen schweren Seufzer aus. Ihre Wut war verraucht doch die Enttäuschung bohrte weiter in ihrem Innern. Eine Menge Arbeit wartete auf sie, aber sie konnte sich zu nichts aufraffen. Freilich würde ihr Müßiggang keine negativen Folgen haben, denn der Haushalt war so perfekt organisiert dass die Dienstboten nicht ständig überwacht werden mussten. Und die Farbe auf dem Kruzifix war noch nicht ganz trocken, sodass sie ihr Werk heute nicht wie ursprünglich geplant vollenden konnte.
Ihr Blick schweifte erneut zu der Laute. Vielleicht sollte sie mit dem Instrument an den schmalen Strand unterhalb der Nordmauer gehen ... Dort wäre sie ganz allein und könnte in Ruhe üben. Wenn Reevius ihr dann, wie versprochen, die nächste Unterrichtsstunde geben würde, könnte sie ihn mit ihren Fortschritten überraschen und beeindrucken.
Isolde sprang von dem hohen Bett hinab und nahm die Laute behutsam zur Hand. Fest entschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken, weshalb Reevius und Emelda beim Mittagessen gefehlt und was sie vielleicht getrieben hatten, ging sie die Treppe hinunter, durchquerte die Halle und den Innenhof und schlüpfte durch das hintere Tor aus der Burg.
Niemand hielt sie auf, denn die dem Meer zugewandte Seite von Rosecliffe war völlig sicher. Vorsichtig stieg sie die steilen Stufen hinab, die in den dunklen Felsen geschlagen worden waren, und hielt sich dabei mit einer Hand an dem dicken Seil fest, das ein Geländer ersetzte. Der Wind zerrte immer rauer an ihren Kleidern, die Luft roch nach Salz, nach Fisch und Seetang. Die Treppe endete am Kiesstrand, der stellenweise mit grobem Sand durchsetzt war. Drei breite Fischerboote lagen mit dem Kiel nach oben am Ufer. Ein viertes schaukelte weit draußen auf den Wellen. Zwei Männer waren dort damit beschäftigt die Netze zu überprüfen. Ansonsten hatte Isolde den Strand für sich allein.
Sie blickte zur Burg empor, die majestätisch hoch oben auf dem Felsen thronte. Aus unerfindlichen Gründen wollte sie nicht dass die Wachposten sie sahen, und strebte deshalb eilig einem großen Felsblock zu, der halb ins Wasser ragte. Als Kind war sie unzählige Male auf ihn geklettert und hatte sich vorgestellt das wäre ein hoher Berg oder ein Schiff, ein schreckliches Meerungeheuer oder ein Feuer speiender Drache. Heute würde der Felsblock ein Schutzwall gegen die Außenwelt sein. Hinter ihm verborgen, würde sie sich der Illusion hingeben" nicht die Tochter eines mächtigen Lords, sondern eines einfachen Mannes aus dem Volke zu sein - ein walisisches Dorfmädchen, das frei entscheiden konnte, wen es heiraten wollte und wen nicht ...
Sie zog Schuhe und Strümpfe aus, raffte ihre Röcke und watete ins Wasser, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Obwohl sie nur Sekunden brauchte, um den Felsen zu umrunden, gefroren ihre Füße fast zu Eis, und sie hüpfte eine Weile am Ufer auf und ab, um die Blutzirkulation anzuregen. Dann suchte sie eine trockene Stelle im Sand, setzte sich hin und lehnte ihren Rücken an den Stein. Als sie in die Höhe schaute, war die Burg verschwunden. Ringsum nichts als Felsen, ein blauer Himmel und das weite Meer. Glücklich über diese Einsamkeit machte sie sich daran, die Geheimnisse der Laute zu erforschen.
Wie viel Zeit verging, hätte sie nicht sagen können. Schatten krochen über ihr sonniges Versteck, die Wellen wurden höher, Möwen kreisten am Himmel und stießen kreischend zum Wasser hinab, sobald sie eine Beute entdeckten, das Fischerboot steuerte dem Ufer zu ... Isolde war so fasziniert von dem Instrument dass 'sie nichts von alldem bemerkte.
Als sie endlich einen Blick in die Runde warf, stand die Sonne schon ziemlich tief. Ihr war klar, dass sie den Rückweg antreten sollte - aber vorher wollte sie unbedingt noch das Lied fehlerfrei spielen, das sie sich mühsam erarbeitet hatte. Ihre Fingerspitzen waren wund von den Saiten, wie sie verwundert feststellte, doch sie ignorierte den Schmerz und unternahm einen neuen Versuch, wobei sie leise vor sich hin summte und das Tempo dem Rhythmus der rauschenden Wellen anpasste.
»... wie Sandkörner am Strand oder
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