Die Herrin von Sainte Claire
kleinen Finger berührst.«
»Ach, mein Sohn«, antwortete Sihtric mit einem trägen Lächeln. »Was verstehst du schon von Frauen! Schade um einen so kraftstrotzenden Jüngling wie dich. Es wird an der Zeit, sich ein Weib zu nehmen und ein paar Erben zu zeugen.«
Roriks Gesicht umwölkte sich. »Du solltest mich besser kennen. Ich tue den Frauen einen Gefallen, wenn ich nicht heirate. Die Frau, die mich zum Gemahl nehmen würde, wäre arm dran.«
Sihtric schnaufte, enthielt sich aber einer Antwort. Er fragte sich, wen Rorik zu überzeugen suchte, seinen alten Freund oder sich.
Lange noch nachdem Sihtric gegangen war, starrte Rorik in die Flammen. Das Bild Alaines tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Im Wald, während ihres Wettkampfes, selbstsicher und siegesgewiß, ein schlankes, knabenhaftes Wesen in Hosen und Tunika, das mit dem Bogen umgehen konnte, als wäre es damit auf die Welt gekommen. Und dann an dem bitterkalten Tag seines Angriffs, verzweifelt und verletzt, die Augen vor Angst und der erlittenen Niederlage getrübt, aber tapfer entschlossen, ihm mutig gegenüberzutreten, als er mit gezücktem Schwert über ihr stand. Dann in ihrem Zimmer, ihm wütend Beschuldigungen entgegenschleudernd, um ihre Bestürzung zu verbergen, als sie die Wahrheit über ihn erfuhr. Und jetzt, stolz und voll eisigem Zorn in ihren ärmlichen Lumpen. Ruß und Schmutz von ihrer Plackerei konnten die Schönheit ihres Antlitzes und ihrer Gestalt nicht verbergen, die er nicht aus seinem Kopf vertreiben konnte. Er sollte zur Hölle fahren, ehe er sich mit dieser Hexe einließ!
»Hilda!« Seine zornige Stimme dröhnte durch den menschenleeren Saal. »Hilda! Komm sofort her!«
Wenige Augenblicke später kündigte ein Rumpeln in der Vorratskammer am anderen Ende des Saales die Ankunft einer verhutzelten Frau an. Sie erweckte den Eindruck, als sei sie soeben aus dem Bett geplumpst.
»Ja, mein Herr!« keuchte sie.
»Sag Gerthe, sie soll in meiner Kammer bereit sein!«
»Ja, mein Herr!«
»Und kümmere dich um Himmels willen darum, daß sie ein Bad nimmt, ehe sie kommt!«
»Ja, mein Herr!«
»Das wäre alles!«
»Ja, mein Herr!« atmete sie erleichtert auf und entfernte sich rückwärts aus dem Saal.
»Ja, mein Herr!« äffte Rorik sie nach. »Ich wünschte mir, alle hier wären so willfährig!«
8
»Er ist ein gutaussehender Mann, findest du nicht?« Gunnor lächelte verträumt.
»Wer?« fragte Alaine und seufzte unmutig. Sie war nicht eben erfreut, als Gunnor in den Saal geschlendert kam, während sie die Überreste des Morgenmahles abräumte. Die Stollentische waren geschrubbt und zur Seite gerückt worden, die Hunde hatten die Fleischreste und Brotkrumen vom Boden fein säuberlich aufgefressen. Alaine war gerade im Begriff, frische Kräuter aus der Vorratskammer zu holen, um sie auf das muffige Heu zu streuen, da tauchte Gunnor auf. Sehr zu Alaines Verdruß schien ihre Stiefschwester auf ein Schwätzchen bleiben zu wollen.
»Wer?« wiederholte Gunnor. »Natürlich Lord Rorik!«
»Rorik?« Alaine kicherte und ließ absichtlich die Höflichkeitsanrede fallen.
Gunnor hob eine fein geschwungene Braue. »Nun, ich finde, er sieht sehr gut aus.«
Ein unwillkommenes Bild schoß Alaine durch den Kopf. Das Antlitz war ihr auf unangenehme Weise bekannt: kurze, schwarze Haare stachen gegen funkelnd grüne Augen ab; die asketisch gemeißelten Gesichtszüge; die aristokratische Nase, gerade, schmal; die vollen Lippen seines großen Mundes meist zu einer harten Linie zusammengepreßt; dichte, schwarze Brauen, die einen zornigen Strich über tiefliegende Augen zogen. Alles in allem ein furchteinflößendes Gesicht, doch zugleich wohl auch anziehend, wenn man diese Art rauher Männlichkeit reizvoll fand. Und natürlich hatte Gunnor nicht so viele finstere Blicke und ärgerliches Stirnrunzeln empfangen wie Alaine. Zweifellos hatte sie Rorik von einer besseren Seiten kennengelernt.
»Ich vermute, er sieht gut aus«, gab Alaine zu, »auf eine rauhe Art und Weise.«
Gunnor schüttelte mitleidig den Kopf. »Arme Alaine«, hauchte sie. »Du glaubst wohl, Sir Rorik sei unbarmherzig zu dir gewesen.«
Alaine machte sich keine Mühe, eine Antwort zu geben. Statt dessen widmete sie ihre ganze Aufmerksamkeit dem Abstauben der großen, holzgeschnitzten Stühle, die auf dem Podium standen.
»Ich persönlich finde, du hast unglaublich Glück gehabt, dem Galgen zu entkommen, oder zumindest einer guten Tracht Prügel am Pranger.«
Alaine
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