Die Herrin von Sainte Claire
Hungersnot. Eine magere Ernte und durch die Überfälle der Männer von Prestot sind sie am Boden zerstört. Es würde uns nichts nützen, sie derart auszupressen, bis ihre Kinder sterben und die Männer zu geschwächt sind, um für ihre Familien zu sorgen.«
»Das mag ja stimmen, aber die Vorratsspeicher sind so gut wie leer. Was sollen wir tun, falls …?«
»Joanna, du kannst ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben!«
Nachdenklich schürzte Joanna die Lippen. »Du magst wohl recht haben. Wir müssen uns nach der Decke strecken und beten, daß wir keinen Vorrat benötigen werden – eine schwache Hoffnung in Anbetracht der Wirrnis, die im Lande herrscht. Was uns auf einen anderen Gegenstand bringt, über den wir miteinander reden sollten.«
»Und was wäre das für ein Gegenstand?«
»Es handelt sich um die Suche nach einem Mann für dich.«
Für einen Augenblick schwieg Alaine, dann wandte sie sich ans Fenster der Kemenate und starrte über die brachliegenden, braungefärbten Felder und Wiesen.
»Müssen wir jetzt darüber reden, so kurz nach … nach …?« Sie verzog ihre Lippen in einem plötzlich aufwallenden Schmerz. »Vater ist eben erst begraben worden.«
»Um so dringlicher solltest du dich vermählen. Dein Vater weilt nicht mehr unter uns und kann uns nicht mehr beschützen. Die Hälfte der Gefolgsmänner sind auf und davon, um einen reicheren Lehnsherren zu suchen. Du hast nicht einmal einen gesetzlichen Oberlehensherren, der deine Rechte verteidigt, da sich dein Vater nie dazu überwinden konnte, Fulk von Brix seine Vasallentreue zu schwören.«
»Fulk von Brix ist ein Usurpator«, erwiderte Alaine voller Ingrimm. »Vater konnte ihm keine Treue schwören, ohne dem rechtmäßigen Herrn von Brix gegenüber seinen Eid zu brechen.«
Joanna schnaubte verächtlich, ihr praktischer Frauensinn hielt wenig vom Ehrbegriff ihres Mannes. »Das sagte dein Vater auch stets. Die Tatsache aber bleibt, daß Geoffrey es versäumt hat, dir einen starken Mann zur Seite zu stellen, der dieses Land, das wir unsere Heimat nennen, verteidigen könnte. Obendrein hat er dich ohne den Schutz eines Oberlehnsherren zurückgelassen.«
Alaine wandte sich seufzend vom Fenster ab. Joanna hatte natürlich recht. Vermählte sie sich nicht, und zwar so schnell wie möglich, dann würde sie alles verlieren, was ihr lieb und teuer war. Die Kunde vom Tode ihres Vaters würde die Aasgeier herbeilocken. Sie müßte sich entweder sofort entscheiden oder sich und ihren Besitz der kriegerischen Meute, die das Land verwüstete, als Beute vor die Füße werfen.
Seit Generationen hatte Ste. Claire dem Vicomte von Brix als Herrscher und Oberlehnsherr den Treueschwur geleistet. In besseren und ruhigeren Zeiten wäre es nach dem Feudalrecht die Pflicht des Herrn von Brix gewesen, der verwaisten Erbin von Ste. Claire zu ihrem Recht zu verhelfen. Aber der rechtmäßige Vicomte war tot, vor langer Zeit ermordet, als Alaine noch ein Kind gewesen war. Ihr Vater hatte sich standhaft geweigert, seinem Mörder, Fulk, der sich nun Vicomte von Brix nannte, die Treue zu schwören. Der junge Herzog William, kaum den Kinderschuhen entwachsen, war zu sehr damit beschäftigt, sein eigenes Leben und seinen Thron zu verteidigen, um einer kleinen Baronie im entferntesten Winkel seines Herzogtums zu Hilfe zu eilen.
Alaine verzog das Gesicht voller Abscheu. »An wen hätte deiner Ansicht nach mein Vater mich vermählen sollen, Joanna?« Sie teilte ihres Vaters Verachtung für alle Ritter, die um ihre Hand angehalten hatten. Insgeheim bereitete es ihr Vergnügen, daß sie in einem Alter, in dem die meisten jungen Mädchen schon ein paar Jahre verheiratet waren, noch immer frei und ledig war.
»Gilbert de Prestot ist ein mächtiger Ritter und seine Ländereien grenzen an die von Ste. Claire. Ich kann es bezeugen, er hat in den letzten zwei Jahren mindestens drei Mal bei deinem Vater um deine Hand angehaltenen.«
»Gilbert de Prestot wirbt um meine Hand und gleichzeitig schickt er seine Krieger aus, unsere Gehöfte und Dörfer zu brandschatzen und zu plündern. Er mißhandelt seine Leibeigenen und betreibt Mißwirtschaft. Willst du, daß ich so jemanden zum Manne nehme?«
»Was hältst du von Sir Robert St. James? Er ist zwar nicht wohlhabend, aber er genießt den Ruf eines gütigen und liebenswürdigen Mannes.«
»Das letzte Mal, als Sir Robert Ste. Claire einen Besuch abstattete, war er so fett, daß er kaum auf seinem Roß aufsitzen konnte. Er hat das
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