Die Herrin von Sainte Claire
tapisserie.
Die Damen, die Alaine zu Pferd zur Kirche begleiteten, ritten ebenfalls auf Maultieren. Sie drängten sich dicht hinter ihr, als sich der Zug durch den Burghof, durchs Tor, über das entfernt gelegene Turnierfeld in Richtung der Straße entlang des Obstgartens schlängelte.
Der Zug kam nur schleppend voran. Die Maultiere trabten langsam durch die Menge, doch Alaine hatte es ohnedies nicht eilig, ihrem Schicksal entgegenzutreten – dieser Zeremonie, die ihr Leben und ihre Ländereien als sein Besitz besiegeln würde, für immer. Ihre Gedanken kehrten zum vergangenen Tag zurück, zu einer ebenso ernsten Zeremonie, in der sie Rorik ihre unverbrüchliche Loyalität und Treue als sein Vasall hatte schwören müssen. Die Worte, die sie zu diesem Anlaß sprach, waren ihr von klein auf geläufig. Sie gehörten zu den Grundsteinen des Feudalrechts. Doch erst als sie die Worte tatsächlich ausgesprochen hatte, erkannte sie, daß sie in eine Falle geraten war; vor Roriks Stuhl kniend, packte sie der plötzliche Wunsch, aufzustehen und zu fliehen. Wieder sah sie die Szene vor sich. Sie vernahm die Worte, mit denen sie endgültig und unwiderruflich Roriks Herrschaft über sich angenommen hatte.
»Sir Rorik, ich, Alaine de Ste. Claire, verspreche bei meiner Treue, Euch ein treuer Gefolgsmann zu sein und Euch meine Vasallenpflicht unwandelbar zu erhalten, aufrichtig und ohne Trug, und ich verspreche, Eure Rechte nach besten Kräften zu wahren.«
Dann erscholl seine Antwort mit lauter Stimme. »Wir versprechen Euch, Vasall Alaine, daß wir und unsere Erben Euch die Nutzung unseres Lehens garantieren und Euch und Euren Erben, soweit es in unserer Macht steht, für die Wahrung des Friedens auf Eurem Besitztum einzustehen gegen alle Menschen, die da leben oder sterben mögen.«
Dann hatte sie ihre Hand auf ein Kästchen gelegt, in der, laut Pater Sebastian, Splitter des heiligen Kreuzes aufbewahrt lagen. Sie sprach die Worte, die sie zwar auswendig kannte, deren Sinn sich ihr aber erst jetzt erschloß.
»Im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit und dieser heiligen Reliquie, schwöre ich, Alaine, daß ich diesen von mir geschworenen Eid halten werde, so wie ich es weiß und verstehe und meinem seigneur, Sir Rorik, die Treue verspreche.«
Sir Rorik hatte ihr dann zur Besiegelung des Lehnsvertrags auf den Mund geküßt, ein züchtiges Streifen der Lippen, das sie dennoch erbeben ließ. Mit diesem Kuß hatte er ihr offiziell Ste. Claire übergeben, und heute, mit einer anderen Art von Kuß, würde er es ihr wieder fortnehmen.
Nun überquerten sie die Brücke über den Ste. Claire und zogen in die Stadt ein. Die Gasse, die zur Kirche führte, war mit farbenfrohen, langen Bändern geschmückt, die im Wind flatterten. Ein Band schwebte zu nahe vor Alaines Maultier; das Tier stolperte auf dem Kopfsteinpflaster gegen das Maultier neben ihm. Beide wären beinahe gegen das Mauerwerk gedrückt worden. Ein Wächter packte rechtzeitig die Zügel der zwei Tiere, bis sie besänftigt waren.
»Entschuldigt, Mylady«, sagte er mit einem verlegenen Grinsen. »Sie sind wohl durch die drängenden Menschen ein wenig unruhig.«
Nicht nur das Maultier ist unruhig, dachte Alaine, als sie sich der Kirche näherten, und die Menge vor dem Portal versammelt sah. Selbst Herzog William befand sich irgendwo zwischen seinem Gefolge zu Pferd, zusammen mit anderen bedeutenden Baronen aus dem Westen und einigen weniger bedeutenden. Am Tag zuvor hatte Gunnor ihr eröffnet, auch Gilbert de Prestot würde anwesend sein. Empört war sie zu Rorik geeilt und hatte ihn gefragt, warum man den Schurken eingeladen hatte. Worauf er nur mit den Achseln gezuckt und gemeint hatte, der Mann sei nicht sein Feind und damit würde er es fürs erste belassen. Außerdem hatte er noch die Unverschämtheit besessen, sie zu fragen, warum dieser Mann sie so aus der Fassung brächte.
»Er wollte mir Ste. Claire wegnehmen und mich vor den Altar schleifen!« war ihre empörte Antwort gewesen. Sie war überzeugt, daß dies gewiß Grund genug war, diesen Schuft nie wieder zu sehen.
Daraufhin hatte Rorik lediglich ein Grinsen aufgesetzt. »Ich habe so ziemlich das gleiche getan«, bemerkte er. »Und doch zeigtet Ihr bei mir nicht die gleiche Erregung.«
Mißtrauisch beäugte er sie und erwog, ob nicht doch mehr hinter diesem Vorfall mit Gilbert de Prestot war. Gunnor hatte angedeutet, Gilbert wäre einer der bevorzugten Freier gewesen. War Alaine nun so aufgewühlt, weil sie ihn
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