Die Herrin von Sainte Claire
Gedanken gemacht, denn von allen Burgen der Gegend ist Brix die wehrhafteste und hat die sicherste Lage. Gefahr schien nicht zu drohen. Jedoch durch Theodas Verrat wurden Stephen und seine zwei ältesten Söhne meuchlings erschlagen. Rorik war damals noch ein bartloser Jüngling. Er kam später zur Schlacht und mußte mitansehen, wie seine Familie vor seinen Augen hingemetzelt wurde. Auch er hätte ein Ende durch eine blutige Speerspitze gefunden, doch brachte ich ihn mit noch ein paar übriggebliebenen Mannen weg. Die Burg war verloren. An jenem Tag wurde er zum Mann. Er schwor sich, das Gestohlene wieder zurückzuerobern und blutige Rache an seinen Verrätern zu üben.«
Alaine stand einen Augenblick in stummer Ergriffenheit und lehnte ihren Kopf gegen das rauhe Holz des Verschlags. »Wie grausam und schrecklich«, sagte sie schließlich leise. Von seiner eigenen Mutter verraten zu werden und dadurch den Tod zu finden. Bitter, sehr bitter …
»Rorik betete seine Mutter an«, fuhr Sihtric fort. »In seinen Augen verkörperte sie all das Gute und Edle der Frauen.«
»Dann ist es wohl hoffnungslos«, erwiderte sie traurig. »Er wird die Frauen stets als böse, verräterische Geschöpfe betrachten.«
»Nichts ist hoffnungslos, was Männer und Frauen betrifft.« Sihtric sah sie durchdringend an. »Sollte eine Maid, so aufrecht, treu und ehrlich wie die, die ich vor mir stehen sehe, sollte nun solch eine Maid sich aufmachen, Roriks Herz zu erobern, dann sehe ich Drache durch diese sanfte und liebende Hand gezähmt.«
Alaine hob ihr Kinn eine Spur höher. Der große Nordmann sah ihr viel zu tief ins Herz. Hastig schob sie einen Vorhang vor ihre Gedanken.
»Wagte es solch eine Maid, um das Herz Eures grimmigen Herrn zu kämpfen, dann müßte sie wohl eine Wundertäterin sein. Ehe Euer Drache gezähmt ist, würde ihr eigenes Herz von seinen Krallen, die er so grausam zu handhaben versteht, in Stücke gerissen werden.«
»Um so größer das Mitleid«, erwiderte Sihtric leise. »Um so größer das Mitleid für Euch und für ihn.«
Er verließ den Zwinger, atmete die eiskalte Nachtluft ein und ließ das nachdenkliche Mädchen allein mit ihren Hunden. Er hatte in seinem Herzen schon immer die Frau bedauert, die Rorik schließlich heiraten würde. Doch spürte er keinerlei Mitleid mit Alaine Ste. Claire. Sie war kein schüchternes Fräulein, die sich vor Roriks düsteren Launen und harten Blicken ängstlich duckte. Auf seinem Weg zurück zur Burg, lachte er stillvergnügt in sich hinein. Möglicherweise war in Wahrheit Rorik mehr zu bemitleiden. Denn diesmal hatte er ein weibliches Wesen gefunden, über das er nicht nach Lust und Laune verfügen konnte.
15
In der folgenden Woche gingen Rorik und Alaine gesittet miteinander um. Sie statteten ihre Besuche bei den Dörfern und Lehensgütern ab. Alaine übte sich in Beherrschung, und so gelang es ihr auch, die Rolle der glücklichen und folgsamen Ehefrau zu spielen, während Rorik zu den Dorfbewohnern und Bauern sprach. Anfangs verhielten sich die Menschen bei Anblick der Drei-Mann-Eskorte zurückhaltend, in Erinnerung an ihre zahlreichen Verstöße gegen diesen grimmig dreinblickenden Herrn. Beinahe bei jeden Wort, das er an sie richtete, wandten sie ihre Blicke hilfesuchend zu Alaine hinüber. Sie lächelte und nickte ihnen ermunternd zu. Unter keinen Umständen wollte sie, daß Sorgen und Leid Ste. Claire weiterhin plagten. Rorik hatte nun einmal Ste. Claire und sie in fester Hand. Daher war es dringend an der Zeit, daß ihre Leute dies auch langsam begriffen.
Auf diesen täglichen Runden wechselten sie kaum ein Wort miteinander. Doch mußte ihm Alaine für seinen Umgang mit den einfachen Menschen, wenn auch widerstrebend, Bewunderung zollen. Er grüßte sie freundlich und sprach zu ihnen offen von Mann zu Mann. Den Frauen gegenüber zeigte er die angemessene Ehrerbietung. Für die Kinder, die hinter den Schürzen der Mütter hervorlugten, hatte er stets ein freundliches Wort und ein Lächeln. Alaine staunte, daß dies derselbe Mann war, der soviel Bitterkeit in seinem Herzen trug. Nach anfänglicher Scheu zeigten sich die Dorfbewohner eifrig bemüht, ihrem neuen Herrn jedweden Wunsch zu erfüllen, um ihr vordem aufmüpfiges Verhalten wettzumachen. Sie erblickten ihre geliebte Herrin an seiner Seite hoch zu Pferd und beschlossen in ihrem Herzen, Gott habe ihnen den richtigen Herrn für Ste. Claire geschickt. Und wer waren sie schon, Gottes Wege in Zweifel zu
Weitere Kostenlose Bücher