Die Herrlichkeit des Lebens
sagt, dass sie noch gehen will, ihr genügt es, im kaum erhellten Steglitz die Auslagen in den Geschäften zu studieren. Ach Franz, sagt sie. Läuft das Kino ihnen etwa davon? Dora findet, nein. Ein andermal, sagt sie, später, wenn das hier vorbei ist, ohne im Geringsten zu wissen, wann das sein wird.
Würde sie ihr Leben aufschreiben, würde sie nur Kleinigkeiten notieren, denn am größten, findet sie, ist das Glück, wenn es winzig klein ist, wenn er sich die Schuhe bindet, wenn er schläft, wenn er ihr durchs Haar fährt. Immerzu macht er etwas mit ihren Haaren. Er hat sie schon gekämmt, er hat sie gewaschen, was ebenso schön wie seltsam war. Ihre Haare, sagt er, riechen nach Rauch und Schwefel, nach Gras, ab und zu nach Meer. Er sagt, dass er nicht fertig wird mit ihr. Wäre er eines Tages fertig, müsste er auf der Stelle tot umfallen, und so bin ich im Grunde unsterblich.
Es gibt die ersten Lebensmittelunruhen in der Stadt. Insbesondere Bäckerläden sind betroffen, die Leute wollen Brot, stehen in großen Gruppen bis auf die Straße. Tile, die am Nachmittag mit einem jungen Maler zu Besuch kommt, hat eine solche Szene mit eigenen Augen gesehen, mehr gehört als gesehen, das Grummeln der vor Hunger wie betäubten Menge, die vereinzelten Schreie, wenn sich hinter den verrammelten Türen des Ladens etwas bewegte und alle forderten, gebt das Brot raus.
Tile wirkt nicht sonderlich glücklich bei ihrem Besuch. Offenbar hat sie erwartet, Franz allein anzutreffen, und erst in der Tür, beim Anblick Doras, begreift sie, dass die beiden ein Paar sind, Mann und Frau, während sie nur ein Mädchen ist, eine Sommerbekanntschaft, die drei Stunden lang kaum den Mund aufmacht. Den Maler hat sie, scheint es, nur aus Anstandsgründen mitgebracht, man hat sich nicht viel zu sagen, oder doch: Der Maler ist zurzeit in einer Ausstellung am Lützowufer vertreten, eine Handvoll Aquarelle mit Meeresszenen, Wasserlandschaften mit Dünen, getürmten Wolken, bei verschiedenen Lichtverhältnissen. Und Tile? Ja, sie tanzt, stellt sich heraus, obgleich die Sache mit den Eltern weiter in der Schwebe ist. Franz sagt, dass er fest an sie glaubt, worauf sie nach seiner Arbeit fragt. Schreibt er an einem neuen Buch? Franz scheint einen Moment zu überlegen, dann sagt er, nein, ein neues Buch, nicht dass ich wüsste.
Sein Beruf ist das Schreiben nie gewesen. Er war in dieser Anstalt, irgendetwas mit Versicherungen, jetzt ist er pensioniert, es gibt ein paar Bücher, die sie nicht kennt und für ihre Liebe nicht braucht. Gingen sie nach Palästina, sagt er, würde ihnen sein Schreiben nichts helfen, er müsste etwas lernen, eine Arbeit mit den Händen, etwas, das den Menschen wirklich nützt.
Wenn ich schreibe, bin ich unausstehlich.
Die nächsten Tage spielen sie das Palästina-Spiel, wie das wäre, er und sie in einem Land nur mit Juden. Das Wetter wäre allerdings herrlich, sie könnten zusammen ein Restaurant eröffnen, in Haifa oder Tel Aviv, so in etwa geht der Traum. Sollen wir? Was meinst du? Kochen müsste natürlich sie, während er der Kellner wäre, wie die Welt noch keinen gesehen hat, allein die Vorstellung bringt sie beide sofort zum Lachen, so tollpatschig wie er nun mal ist. An der Straße ein kleines Lokal, sodass man draußen sitzen kann. Nur ein paar Tische, stellen sie sich vor, was nicht heißt, dass sie daran glauben.
Auch an die Gärtnerschule in Dahlem glauben sie nur kurz. Franz hat erzählt, wie er sich vor Jahren als Gärtner versucht hat, aber damals war er nicht so schwach. Ein Bekannter, der die Schule kennt, rät entschieden ab, die Arbeit sei schwer, ob man jemanden in seinem Alter nehme, fraglich, Leute auf Arbeitssuche gebe es genug. Franz wirkt ein wenig ernüchtert, zumal die Enttäuschung wie immer er selbst ist, neulich die beiden Männer, die das Klavier holten, haben es ihm aufs Neue vor Augen geführt.
Eines Tages lernen sie im Park ein kleines Mädchen kennen. Es steht mutterseelenallein in der Wiese und weint, deshalb sprechen sie es an. Es kann kaum reden, so sehr weint es, es hat seine Puppe verloren, hier, irgendwo im Park. Anfangs versteht man kein Wort, das Mädchen zeigt sehr aufgeregt in verschiedene Richtungen, offenkundig hat es die Puppe schon überall gesucht. Sechs, sieben Jahre ist das arme Ding, nie nie wieder wird es eine so schöne Puppe haben. Gestern Nachmittag hat es sie zuletzt gesehen. Mia scheint die Puppe zu heißen, oder ist das sein eigener Name?
Allmählich beruhigt
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