Die Herrlichkeit des Lebens
dass so wenig davon geblieben ist, Anfang August ist das erst gewesen. Auf dem Rückweg in der Straßenbahn fühlt er sich seltsam matt, er geht früh zu Bett, gegen elf kommt wie bestellt der Husten, harmlos der Qualität nach, wie er später an Max schreibt, ärgerlich in der Quantität.
Den nächsten Tag verlässt er kaum das Bett. Er steht wie üblich nach sieben auf, legt sich zwei Stunden später wieder hin, lässt im Halbschlaf Gabelfrühstück und Mittagessen an sich vorüberziehen, bevor er sich um fünf endlich aus dem Bett quält. Dora kümmert sich rührend, auf eine unsichtbare Art, sodass sich seine Schamgefühle in Grenzen halten. Sie verbietet ihm, bei Regen in die Stadt zu fahren, auch die Einkäufe will sie übernehmen, alles in einem scherzhaften Ton, der ihm nicht ganz neu ist. Ottla spricht gelegentlich so mit ihm, wenn sie sich sorgt, als Zeichen ihrer Verbundenheit.
Ich passe nicht gut auf dich auf, sagt Dora, ich bin zu viel fort. Dabei sehen sie sich fast jeden Tag. So wie es sich anfühlt, ist sie immer da oder im passenden Moment weg, die drei Stunden, die er mit Dr. Weiß zusammensitzt, bevor sich dieser plötzlich entschuldigt, die längste Zeit nervös, verbittert-fröhlich, außer in der halben Stunde mit Dora.
Er hat noch immer keinen festen Tagesablauf. Unmerklich und untätig verfliegen die Tage, er macht die Post, aber mehr ist da nicht. Dauernd muss er los zum Geldwechseln, man isst, man hat zu reden, lernt sich kennen. Richtig schwierig ist nichts. Nicht jede Erkundung gelingt auf Anhieb, es gibt Empfindlichkeiten, Hindernisse, die man in sich wegräumen muss, an diesem zauberhaften Wesen liegt es ja bestimmt am allerwenigsten. Manchmal erfüllt ihn Stolz, dann möchte er sie überall zeigen, schaut her, was ich da habe, als wäre sie seine Beute. Gestern, während des Besuchs von Weiß, war die Empfindung sehr stark, wenn sie kam und etwas brachte, als sie sich kurz setzte.
Also leben sie mehr oder weniger als Paar. Das Zimmer ist nicht sehr groß, wenn die Dinge sich weiter so angenehm entwickeln, werden sie eine Wohnung suchen müssen, doch vorläufig ist er mit den Verhältnissen vollauf zufrieden. Abends, wenn sie geht, ist er nicht erleichtert und nicht bekümmert. Sie lässt oft Dinge für ihn liegen, einen Schal, einen Ring, den sie beim Spülen abgenommen hat, auf dem Sofakissen ein Haar, einen Fetzen Doraduft im Flur, einen Rest Stimme, während er sich der Stille des Abends überlässt.
Bis Ende des Jahres mindestens will er bleiben.
Wenn es das Wetter zulässt, geht er weiterhin spazieren, oft in den Botanischen Garten, wo man in den Glashäusern die seltensten Blumen und Pflanzen studieren kann. Es regnet, doch ist es bislang nicht sonderlich kalt, man kann im Jackett gehen, aber wahrscheinlich nicht mehr lang. Er braucht etwas für den Winter, einen Mantel, Kleider, Wäsche, einen Schlafrock, vielleicht einen Fußsack.Eventuell kann Max etwas davon bringen, oder er steigt in den Zug und holt sich die Sachen ab. Den Eltern hat er bei seiner Abreise gesagt, er bleibe nur ein paar Tage, und jetzt sind es schon Wochen, er hat ein schlechtes Gewissen, aber nicht allzu sehr, außerdem wäre er bei einem Besuch auf der Stelle wieder der Sohn, und das möchte er auf keinen Fall.
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F ÜR D ORA IST FÜRS E RSTE ALLES GUT. Sie hatten diese durchwachte Nacht, seither ist der Husten nicht zurückgekehrt, sie wird aber genauer auf ihn aufpassen. Es ist weiterhin kühl, es regnet, für wenige Stunden scheint die Sonne, bevor es neuerlich regnet. Der Dollar steht bei vier Milliarden Mark, sie müssen sparen, aber sie fühlt sich jung, sie lebt mit diesem Mann, den sie gerade drei Monate kennt und der ihr jede nur denkbare Freiheit lässt. Sie kann kommen und gehen, wann sie will, arbeitet stundenweise für lumpiges Geld im Volksheim, redet mit Paul, trifft sich mit Judith. Beide sagen ihr, wie gut sie aussieht, fragen sie aus, wie es ist. Ist es, wie du es dir erträumt hast? Darauf könnte sie natürlich einiges antworten, doch sie zieht es vor, zu nicken, sie strahlt, als würde sie sich an etwas erinnern, ein Detail, auf das sie bisher nicht geachtet hat, bloß wen um Himmels willen geht das eigentlich etwas an.
Eine Weile glaubt sie tatsächlich, dass man ihnen alles anmerkt, wenn sie zusammen aus dem Haus gehen, als wären da überall Spuren, irgendein Leuchten, ein Geruch, der geblieben ist, auf der Haut ein Abdruck, für ein paar Stunden an der Stelle am
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