Die Herrlichkeit des Lebens
beschützen, na, warum auch nicht. Sie riecht gut, denkt er, nur sehr kurz, während er sie im Arm hat, dass auch sie infrage hätte kommen können, in einem anderen Leben, wenngleich er sie im Grunde nur flüchtig kennt.
An die Eltern hat er bereits geschrieben. Geantwortet hat Elli, die sich aus der Ferne sorgt, denn aus der Ferne wirken die Dinge schnell gefährlich, während sie vor Ort beinahe Gewohnheit sind. Allerdings ist das Gegenteil ebenso wahr. Man muss nur die Augen aufmachen oder die hiesigen Zeitungen lesen, am Rathaus in den Schaukästen den Steglitzer Anzeiger, der zu seiner täglichen Lektüre geworden ist. Aber er hat ja unbedingt nach Berlin gewollt. Meistens überfliegt er die Seiten nur. Erst am Vormittag hat er einen regelrechten Anfall von Zahlenwahn gehabt, was aber leider nicht alles ist, die eigentliche Lektion steht ihm erst noch bevor. Im Botanischen Garten auf einer Bank bei herrlichstem Sonnenschein geht eine Gruppe Mädchen an ihm vorbei; wie ein Liebesabenteuer fängt es an. Eine hübsche lange Blonde, Jungenhafte, die ihn kokett anlächelt, das Mäulchen aufstülpt und ihm etwas zuruft. Das ist, so scheint es, der Vorfall. Er lächelt überfreundlich zurück, noch als sie sich später mit ihren Freundinnen öfter nach ihm umdreht, lächelt er, bis ihm allmählich aufgeht, was sie gesagt hat. Jud hat sie gesagt.
Das Foto, das er im Kaufhaus Wertheim Anfang Oktober von sich anfertigen lässt, ist für die Eltern. Über den Preis kann man nur erschrecken, aber auch sonst ist er keineswegs zufrieden. Der rechte Hemdkragen hat eine hässliche Falte, was nun leider nicht mehr zu ändern ist, Krawatte, Anzug und Weste scheinen so weit in Ordnung. Richtig getroffen fühlt man sich auf Fotos ja selten, trotzdem muss er sich eingestehen, dass ihn das Foto schockiert. Er sieht wie ein ältlicher Primaner aus. Schrecklich sieht er aus. Die Ohren stehen ab, die großen Augen schauen wer weiß wie feinsinnig. Von Dora keine Spur. Warum lächelt er nicht? Na gut, ein klitzekleines Bisschen scheint er zu lächeln, es gibt einen zarten Abdruck, einen leisen Glanz, könnte man sagen, mit etwas gutem Willen, falls er ihn aufbringt, auf der Rückfahrt in der Straßenbahn, bevor er zurück im stillen Steglitz ist.
Ottla hat ein Paket mit Butter geschickt und möchte wissen, wie es ihm geht, stellt sich vor, wie das ist, die ersten Tage mit dieser Frau. Man merkt, dass sie leise zweifelt, der Doktor hat sich mit Nähe seit jeher schwergetan, außerdem kennen er und Dora sich ja erst kurz. Ist sie gerade bei dir? Bist du lieb und nett zu ihr? Was ja so klingt, als müsse Dora vor ihm in Schutz genommen werden. Aber nichts ist unnötiger als das, von Vorbehalten keine Spur. Und ja, sie ist bei ihm, nicht rund um die Uhr, aber doch so oft, dass er sich an sie gewöhnt, es gibt einen gewissen Rhythmus, das meiste wie von selbst, als wäre es nie anders gewesen.
Elli hat geschrieben und ihm Vorwürfe gemacht. Sie nennt es reinen Mutwillen, dass er nach Berlin gefahren ist, zweifelt seine Verlässlichkeit und Wahrheitstreue an und begründet ihre Sorgen wie üblich mit Gewichtsfragen. Manches gibt er durchaus zu. Er ist in Müritz nicht dick geworden und nicht in Schelesen, wo er erst zu- und dann abgenommen hat, und genau in dem Augenblick, bevor es für immer zu spät gewesen wäre, ist er in den Zug nach Berlin gestiegen und würde es jederzeit wieder tun. Versteht sie das denn nicht? Hat sie Dora nicht kennengelernt? Er hat wenig Lust, ihr zu schreiben. Nicht auf diese Weise, als müsse er sich rechtfertigen, ausgerechnet vor Elli, die von Anfang an dabei gewesen ist und gesehen hat, welches Glück das Mädchen für ihn ist.
Er hat darum gebeten, Geld zu schicken, in einfachen Briefen, häppchenweise kleine Beträge, weshalb die Nabelschnur vorläufig nicht zerschnitten werden kann.
Das Wetter ist leider sehr wechselhaft. Die letzten Tage hat es praktisch nur geregnet, er hat sich nicht direkt verkühlt, aber er spürt die Wirkung der Stadt, die alles andere als günstig ist, er hat sich überanstrengt, bereut, dass er zu Puah in die Steinmetzstraße gefahren ist, zumal er den Eindruck nicht loswird, dass sein Kommen sie nicht freut. Sein Hebräisch hat seit Monaten keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Sie begrüßt ihn fast förmlich, fragt nach Dora, mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse. Spricht nicht Dora sehr gut Hebräisch? Er denkt an den herzlichen Abschied in Müritz, enttäuscht,
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