Die Herrlichkeit des Lebens
Manchmal beten sie sogar gemeinsam, wobei sie immer staunt, wie wenig er weiß. Aber genau das ist vielleicht das Schöne, wenn er neben ihr die Gebete spricht, auf eine unbeholfene Art fromm, wie ein Schüler, der die ersten Buchstaben des Alphabets vor sich hin murmelt und in seinen Gedanken wer weiß wo ist. Er hadert, hat das Gefühl, dass er alles falsch macht, aber es gibt kein Richtig oder Falsch, man muss nur die Gebete sprechen. Man erschafft sich einen Raum, sagt sie. Alles ist still. Nur wenn es ganz still ist, hört sie bisweilen eine Stimme, weit weg, mehr hell als dunkel, seltsam jung, sodass es nicht schwer ist, ihn zu bitten. Hörst du mich? Herr, sagt sie. Bitte erhöre mich. Er soll nur wissen, dass sie hier steht und nichts Unmögliches verlangt.
Eine Weile ist sie merkwürdig dünnhäutig, muss vor Rührung weinen, als Ottla zwei Tischdecken und ein paar Abwischtücher schickt, fürchtet sich plötzlich vor dem Winter. Dabei ist der erste Schnee längst weg, es regnet, siehaben es warm und hell, deshalb gibt es keinen Grund. Franz ist sehr liebevoll. Er schreibt, aber nicht jeden Tag, er nimmt sie in den Arm, freut sich über ihr Essen, sitzt bei ihr in der Küche, fast wie damals in Müritz.
Ahnung ist das falsche Wort. Sie ist ein paar Tage ohne innere Ruhe, läuft dauernd auf und ab, mit dem unbestimmten Wissen, dass sie verletzlich sind, er und sie, bevor sich die Befürchtungen langsam verlieren.
Franz hat seit Tagen geschrieben, er wirkt erschöpft, aber zufrieden. Fertig ist er nicht, er hat Schwierigkeiten mit dem Schluss, trotzdem möchte er ihr vorlesen, was er hat. Wieder muss sie denken, wie schön er spricht, hört mehr auf seine Stimme als auf die Geschichte, die ihr weiterhin fremd ist. Ist das Tier Franz? Manchmal sieht sie nur das Tier, dann wieder glaubt sie zu verstehen, dass er über sein Leben hier in Steglitz schreibt, alles verklausuliert, aber nicht so sehr, dass ihr der entscheidende Punkt entginge. Er hat gesagt, dass sie der Burgplatz ist. Das Tier hat Angst, es arbeitet Tag und Nacht, zwischendurch hat es Hunger, und in der Tat sind die Vorräte unermesslich, der ganze Bau duftet nach Fleisch, und das Fleisch bin ich, wie sie erschrocken denkt, und dann kommt die Stelle, wo er es sich nimmt, und es hört sich fürchterlich an.
Noch tags darauf ist sie verstört. Draußen tobt seit Stunden ein Sturm, Franz hat sich hingelegt, deshalb hat sie Zeit, weiter darüber nachzudenken. Sie fühlt sich nackt, irgendwie ausgesetzt, auch verletzt, aber das Komische ist, dass ihr das gefällt. Sie ist das Fleisch, aber anders als bei Albert, der sie einfach weggeworfen hat. Sie versteht es selbst nicht genau. Die Geschichte an sich ist schrecklich. Hat er wirklich dauernd Angst? Denn vor allem ist eseine Geschichte über die Angst. Haben Tiere Angst? Sie hat an ein paar Stellen gelacht und hofft, dass ihr Franz nicht böse ist. Er hat das sofort verneint, er schien sich im Gegenteil zu freuen, obwohl die Stellen die furchtbarsten waren.
Der Husten, sagt Franz, ist natürlich immer da. Darin ist er wie die Gespenster, man darf ihn um Himmels willen nicht wecken, vielleicht noch nicht mal von ihm sprechen, denn sonst lockt man ihn aus seinem Versteck und wird ihn dann so leicht nicht wieder los.
Sie haben zusammen gefrühstückt, Dora trägt seinen Morgenmantel und sitzt auf seinem Schoß. Dass sie seinen Morgenmantel trägt, ist neu, dass er ihr erlaubt, Grüße unter seine Briefe zu setzen, dass alle von ihr wissen und nach ihr fragen, Max und Ottla, die schon hier gewesen sind, und nun auch dieser Robert, von dem sie nur weiß, dass er mit Franz vor Jahren in einem Sanatorium gewesen ist. Einzig die Eltern wissen nichts von ihr. Schreibt er an die Eltern, klingt es immer so, als wäre er völlig allein in Berlin. Er möchte nicht, dass sie sich sorgen, sagt er. Nur wenn sie sich nicht sorgen, lassen sie ihn hier in Frieden leben, und also beklagt er sich, weil das Waschen in Berlin so teuer ist, redet vom Wetter, das so schlecht bisher nicht gewesen sei, trocken und nicht sehr kalt, wenig Nebel, jetzt freilich regne es, aber nicht sehr schlimm.
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DIE G ESCHICHTE HAT WEITERHIN keinen Schluss, sie endet vorläufig mit einem Patt: Es gibt das Fleisch und den Bau, es gibt das Geräusch des Feindes, der durch nichts und niemand aufzuhalten sein wird. Würde ihm jemand sagen, an dem und dem Tag wirst du richtig krank, und er würde richtig krank, wäre er nicht
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