Die Herrlichkeit des Lebens
immer das Gefühl, er müsse ihren Vorwürfen zuvorkommen, außerdem soll sie nicht merken, welche Sorgen er sich über die fortschreitende Teuerung macht und sogar schon überlegt, ob er Berlin nicht besser verlässt. Vorläufig sei es ein Spiel, behauptet er, nennt die bestehenden Alternativen Schelesen, Wien oder den Gardasee, nimmt es zurück. Nach Neujahr werde es gewiss besser, schreibt er, angeblich sollen die Preise fallen, um die Hälfte, hat er gehört, womöglich sogar um das Ganze, so scherzt er, man werde durch Faulenzen Geld verdienen, nicht ohne hinzuzufügen, dass es Dora gelungen ist, das Arzthonorar telefonisch auf die Hälfte herunterzuhandeln.
Ob er so ungern telefoniert, weil man mit der Stimme nicht lügen kann? In Briefen kann man sich verstellen, man lässt in der Schwebe, was am Telefon sofort roh und eindeutig ist. Zum Beispiel seine Bitte wegen des Spuckfläschchens hätte er am Telefon nicht aussprechen wollen. Die Sache ist ein wenig kompliziert, sie betrifft das Fräulein, von dem er weiß, dass es zu Weihnachten gerne etwas schenken will. Weihnachten ist längst vorbei, dennoch lässt er das Fräulein über Elli bitten, ihm bei Waldek & Wagner einen neuen Deckel zu besorgen, Fläschchen und Gummieinlage sind vorhanden, er hat es länger nicht benutzt, nur für den Fall der Fälle.
Von heute auf morgen gibt es keinen Spiritus mehr. Dora hat es in verschiedenen Geschäften versucht, aber vergebens, deshalb kocht sie jetzt auf Kerzenstümpfen, was mühsam und ein wenig lächerlich ist, aber am Ende bekommt sie es irgendwie hin. Man verbrennt sich fast die Zunge, so heiß ist das Essen geworden, trotzdem ist es ein weiterer Rückschlag. Sie haben seit Ewigkeiten nichtsmehr unternommen, selbst das Briefporto können sie sich kaum leisten, von Extras nicht zu reden.
Wünsche für das neue Jahr gibt es genug; doch die meisten wagt man gar nicht zu denken. Dora möchte nie wieder so erschrecken wie vor einer Woche; an Silvester hier mit ihm im Bett liegen möchte sie. Es ist lange nach Mitternacht, Dora kann vor Müdigkeit die Augen kaum offen halten, sie hat kalte Füße, aber sonst ist sie überall warm, unter der Decke, wo er sie irgendwie umfasst. Gegen zwei schläft sie ein, was ein kleines Wunder ist, denn der Lärm ist bei offenem Fenster stundenlang ungeheuerlich, wie er später nach Hause berichtet, ohne Rücksicht auf den Frost, der Himmel voll Raketen, im ganzen großen Umkreis Musik und Geschrei.
Sie werden nicht ewig so zusammen sein. Manchmal kann er sie sehen, allein, ohne ihn, in zehn Jahren mit Mitte dreißig, wenn sich die Schönheit allmählich verdunkelt, aber zugleich klar und in gewissem Sinne endgültig wird. Sie wird nicht immer schmal sein, eher füllig, wenn er sich nicht täuscht, doch der Blick wird bleiben, ihre Sanftheit, ihre Lebendigkeit, der gute Glaube.
Einmal träumt er von F. Er denkt seit Wochen zum ersten Mal an sie, nur weil er von ihr geträumt hat. Er weiß, dass sie verheiratet ist und Kinder hat, vom Hörensagen, denn nach Auflösung der Verlobung haben sie sich bald nicht mehr geschrieben. Er wüsste nicht, was. Dass er endlich das Leben bekommen hat, das mit ihm zu führen sie nicht bereit war? Von dem Traum weiß er nur, dass es um Möbel ging, die Einrichtung eines riesigen Salons, denn über solche Fragen haben sie oft gestritten.
An Ottla schreibt er, dass Meran nicht übel wäre. Trotzdem bleibe er fürs Erste in Berlin, wo über Neujahr wie angekündigt die Preise leicht gesunken sind, die Stadtbahnfahrt zum Potsdamer Platz kostet ein Drittel weniger, ein Liter Spiritus knapp die Hälfte. Trotz Doras Bedenken sind sie in die Stadt gefahren, das Wetter ist nicht gar so schlecht, und tatsächlich tut es gut, mal wieder unter Menschen zu sein, man kann sich vergewissern, dass alles am gewohnten Platz ist, die Preise, wie gesagt, sind interessant, zum Beispiel in einem Winkelrestaurant das Wiener Schnitzel mit Spargel kostet sage und schreibe 20 Kronen. Ja, die Kälte sei kräftig, schreibt er am Abend, aber unter seiner Daunensteppdecke sei es warm, manchmal gebe es im Park in der Sonne einen warmen Augenblick, und mit dem Rücken an der Zentralheizung sei es auch recht gut, gar wenn man zum Überfluss die Füße im Fußsack habe.
[Menü]
8
A M MEISTEN FREUT SIE SICH, dassnun auch seine Eltern von ihr wissen, richtig offiziell, dass sie miteinander leben. Ein wenig war sie deshalb schon gekränkt, Franz hatte Bedenken, es ihnen
Weitere Kostenlose Bücher