Die Herrlichkeit des Lebens
gesagt: ruiniert, aber sie haben sich nicht gutgetan, jedenfalls hat er lange auf siegewartet, Brief um Brief gehofft und sich zerrieben, sodass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie aus Erschöpfung auseinanderfielen. Ein-, zweimal einen Brief hat sie liegen sehen, eine Schrift auf einem Umschlag, über die sie kurz nachgedacht hat, alles vor Wochen.
Sollte er erneut krank werden, wird sie auch diesmal nicht zögern, einen Arzt zu rufen. Gestern, beim Abendessen, hat sie plötzlich so eine Ahnung gehabt, er sah müde und fiebrig aus, und tatsächlich hatte er erhöhte Temperatur. Von nun an messen sie wieder regelmäßig. Auch am Morgen hat er Temperatur, die bis zum Mittag fällt und steigt, immer so um die 37,5.
Als wäre das nicht genug, erklärt Frau Rethmann, die Sache sei nun definitiv, zum 1. Februar müssen sie ausgezogen sein, und mit der Ersatzwohnung werde es leider nichts, sie sei schon vergeben. Nun gut, insgeheim haben sie damit gerechnet, Franz macht sogar Scherze, auf diese Weise werden sie wenigstens Berlin kennenlernen, aber es klingt ein bisschen matt, als wäre es ihm plötzlich egal, wenngleich die Namen Meran und Wien nicht fallen.
Ein Anlass zur Freude sind weiterhin die Pakete, wenn ein Stück Butter kommt, Sachen für den Haushalt, in der Regel von Ottla oder der Mutter und einmal auf Veranlassung von Max eine Sendung vom Frauenbund, wie sie in diesen Tagen an in Not geratene Ausländer in Deutschland verschickt wird. Franz hätte sich eine Tafel Schokolade gewünscht, Dinge, die in Berlin nicht zu haben sind, aber stattdessen gibt es nur langweiligen Grieß, Reis, Mehl und Zucker, Tee und Kaffee, sodass sich die Begeisterung in Grenzen hält. Man könnte einen Kuchen backen, und in der Tat hat sie sofort eine Idee, für wen: die Kinderim Jüdischen Waisenhaus, in dem sie letztes Jahr als Näherin gearbeitet hat. Sie wird empfangen wie ein Engel. Der Kuchen ist im Nu weg, trotzdem wollen die Kinder sie nicht gehen lassen. Hungrige, traurige Gesichter mit großen dunklen Augen. Auf einmal habe ich gesungen, erzählt sie Franz am Abend. Sie haben zusammen gesungen, sie haben gebetet, die Tränen beim Abschied waren schlimm, als hätten sie genau gewusst, dass es für lange Zeit der letzte Besuch gewesen ist.
Für Franz sind solche Ausflüge undenkbar. Ich bin ein völliges Haustier, spaßt er. Ob sie das in Müritz für möglich gehalten hat? Am Strand muss ich doch beinahe wie ein Sportler gewirkt haben. Ich bin geschwommen, ich bin von meinem Strandkorb mühelos zum Wasser gelaufen, dann zurück, dann mit dir bis zur Landungsbrücke, durch den Wald bin ich mit dir spaziert, zweimal im Abstand weniger Tage, und nun schau an, was aus mir geworden ist. Er möchte, dass sie andere Leute trifft, sie soll nicht denken, dass sie ihn nicht alleine lassen kann, zum Beispiel wenn er schläft, braucht er sie ja überhaupt nicht. Ja, hörst du? Wenn er sie bittet, sieht er wie ein kleiner Junge aus, sie nickt, schüttelt den Kopf, wird darüber nachdenken.
Sie möchte nie mehr schlafen ohne ihn.
Um zu sparen, heizen sie jetzt nur noch das Schlafzimmer. Fast ist es wie in der Miquelstraße, es ist erstaunlich, mit wie wenig Platz man auskommen kann, denn eigentlich haben sie nur das Bett, den kleinen Tisch, Stuhl und Schrank, aber sonst nur das Bett, in dem sie sogar essen, wenngleich man dann tagelang überall die Krümel hat.
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W IE ES IHM WIRKLICH GEHT, ist nicht leicht zu sagen, von der Temperatur mal abgesehen, dass er ein schlechtes Gewissen wegen Emmy hat, die von weiteren Eskapaden abgehalten werden müsste, wozu ihm leider die Kraft fehlt. Grund zum Jubeln hat er nicht. Er schläft, er hat zu essen, er hat Dora, gewiss, aber alles in allem fühlt er sich doch etwas hinfällig, die Arbeit stockt, das nächtliche Gekritzel, denn viel mehr ist es in den letzten Wochen nicht gewesen. Er hat Angst, dass er neuerlich krank wird, aber er kann seine Befürchtungen benennen, in einem langen Brief an Max, in dem er so tut, als handele es sich nur um Kleinigkeiten: Der Boden unter ihm müsste gefestigt sein, der Abgrund vor ihm zugeschüttet, die Geier um seinen Kopf verjagt, der Sturm über ihm besänftigt, ja, dann, wenn das geschehen würde, so schreibt er, nun, dann ginge es ja ein wenig.
Kommt Besuch, empfängt er ihn jetzt oft im Bett, das Ehepaar Kaznelson Anfang des Monats für einen halben Nachmittag, während es bei Doras Freundin Judith kürzlich nur eine halbe Stunde gewesen
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