Die Herrlichkeit des Lebens
ist. Inzwischen ist ihm oft schon das zu viel, dann wieder fühlt er sich beschwingt, möchte am liebsten aus der Wohnung, um nicht immer weiter alles zu versäumen, zum Beispiel die Lesung heute Abend aus den Brüdern Karamasow. Das Fräulein Bugsch aus Dresden und die Vortragskünstlerin Midia Pines haben den Vorschlag gemacht, seit dem frühen Nachmittag sind sie da, und bislang ist es keine Sekunde langweilig gewesen. Vor allem die kleine dunkle Midia hat es dem Doktor angetan, man redet über die großen Russen, den Unterschied zwischen Tolstoi und Dostojewski, die Kunst des Lesens, hat sogar Pläne für danach, man möchte nach der Lesung in die Stadt, und am Ende sind es ebendiese Pläne, die ihm klarmachen, dass er besser zu Hause bleibt. Er hat sich überschätzt. Alle sind überrascht, ja bestürzt, man versucht ihn zu überreden, dabei versucht er sogar aufzustehen, womit die Sache endgültig entschieden ist.
Wie sich herausstellt, scheint er etwas versäumt zu haben. Dora ist sehr beeindruckt wiedergekommen und redet seither nur noch von dieser Midia. Es ist nach sieben, das erste Frühstück steht auf dem Nachttisch, und er hört ihr zu, so gut es eben geht, denn manchmal rutschen seine Gedanken weg, fast als wäre er neidisch, auf die begeisterten Menschen, unter denen sie gewesen ist, die Stunde in der Weinstube, in der das Lob für Midia nicht aufhörte. Wie schade, dass man es nicht richtig erzählen kann, sagt Dora, aber sie strahlt, sie habe immerzu an ihn gedacht, den ganzen Abend, während er hier im Bett lag und sich über einen Anruf von Elli ärgerte, denn kurz nachdem sie alle weg waren, klingelte das Telefon, und Elli war dran und kam mit ihren berühmten Sorgen.
Eine neue Wohnung haben sie immer noch nicht.
Dora hat eine Annonce aufgegeben: Älterer Herr sucht zwei Zimmer, am liebsten in Steglitz, obwohl sie diesmal Zehlendorf hinzugenommen haben, wodurch die Stadt in noch weitere Ferne rücken würde. Manchmal fühlt er sich wie im Gefängnis. Er ist seit Wochen nicht mehr in derJüdischen Hochschule gewesen, selbst Emmy hat er nicht getroffen, nur kurz telefoniert, was schlimmer war, als sie zu treffen, denn sie gab sich recht kühl, redete fast kalt von ihren Tränen, wie oft und lange sie um Max geweint habe, doch jetzt, von heute auf morgen, sei es damit vorbei.
Sitzt er am Schreibtisch, fragt er sich, was er da noch tut, und tröstet sich mit dem Gedanken an die neue Wohnung. Er versteht nicht genau, woran es liegt, an der fehlenden Kraft, dem Übermaß an Ruhe, das sich so leicht nicht abstellen lässt, dass er am liebsten alles verbrennen würde.
Seit Kurzem taut es. Der Januar-Schnee ist so gut wie weg, was gewiss nicht das letzte Wort gewesen ist, aber wenigstens scheint zur Abwechslung die Sonne. Er geht in den Park, sitzt auf der Bank, auf der ihn damals das Mädchen einen Juden genannt hat, etwas sehr schnell erschöpft, wie man zugeben muss, weshalb er auch auf der nächsten Bank eine Pause macht und auf der übernächsten wieder. Am Rathaus in den Schaukästen entdeckt er auf Seite eins die Nachricht, dass Lenin gestorben ist, offenbar schon vor Tagen. Er erschrickt, wie wenig sie von solchen Ereignissen Kenntnis nehmen, nur kurz, weil es ihm durchaus recht ist, vielleicht nie so recht wie gerade jetzt.
Er hat nie richtig über Geld nachgedacht.
Wegen der Anzeige klingelt jetzt dauernd das Telefon, aber die Angebote klingen mehrheitlich dubios oder sind unerschwinglich, außerdem hat er weiterhin Temperatur, sodass er das meiste nicht besichtigen kann. Wider alle Vernunft interessieren sie sich für eine Wohnung, für die er sage und schreibe drei Viertel seiner Pension ausgeben müsste, sie fahren zwei Stationen mit der S-Bahn undhoffen auf einen Nachlass, den es natürlich nicht gibt. Die Wohnung ist trotzdem ein Wunderding, viel schöner als die jetzige, zwei Zimmer und eine Kammer im Parterre einer Villa in Zehlendorf, vollständig im Grünen, wie er der Familie berichtet, mit Garten, Liegeveranda, elektrischem Licht, Zentralheizung. Wir sind verrückt, sagt Dora. Aber genau das scheint ihnen zu gefallen, zumal das Telefon weiter nicht stillsteht. Der letzte Anruf kommt nach zehn, eine freundliche Stimme, die auf alles eingeht und für morgen Vormittag eine Besichtigung vorschlägt, eine Frau Dr. Busse. Busse? Den Namen hat er schon gehört. Er schlägt im Telefonbuch nach, der Mann ist Schriftsteller; soweit er sich erinnert, kann er Juden nicht leiden.
Bei der
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