Die Herrlichkeit des Lebens
warum es ihr nichts ausmacht, dass sie überall hingeht. Vorhin hat sie mit Judith telefoniert. Immer, wenn sie mit Judith telefoniert, schöpft sie neuen Mut, sagt sie, der Ort sei doch ganz egal, auch Judith findet das, sie lasse ihn herzlich grüßen.
Robert hat geschrieben und eine Tafel Schokolade geschickt. Man müsste auf der Stelle antworten und sich bedanken, aber in diesem Schwebezustand ist an Antworten nicht zu denken. Gegen Mittag fällt etwas Schnee, später kommt die Sonne heraus, er wagt sich auf die Veranda, nicht sehr lang, mehr ratlos als bedrückt, mit einem wachsenden Gefühl der Nichtsnutzigkeit.
Am nächsten Morgen kümmert er sich um die Papiere. Er liegt im Bett, halbwegs munter, und dann fragt er sie, sagt ihr genau, was sie bringen soll, alles, was sie findet, die Hefte, Briefe, lose Blätter. Das Angenehme ist, dass sie es einfach tut. Sie wirkt überrascht, weil es aus heiterem Himmel kommt, aber dann macht sie es. Er kann hören, wie sie sucht, das Rascheln von Papier, eine Schublade, die auf- und zugeht, im Abstand weniger Minuten. Die beiden Geschichten hat er bei sich am Bett, er hat sie noch einmal geprüft, doch alles andere kann weg. Es ist wertloses Zeug, sagt er, ab und zu müsse man Ballast abwerfen. So auf einem Haufen ist es mehr als gedacht, die Sache nimmt überraschend viel Zeit in Anspruch. Dora hat sich vor den glühenden Ofen gekniet, wirft Stück für Stück hinein, muss immer kurz warten, damit das Feuer nicht erstickt, während er ihren gebeugten Rücken betrachtet, ihre nackten Füße, Sohlen. Erst als sie fertig ist, will sie wissen, warum. Ist es auch gut, ich meine, für dich? Und er sagt, ja, ich denke, erleichtert, so etwas wie gereinigt, selbst wenn er das meiste gar nicht hierhat, denn die alten Tagebücher sind bei M. und der Rest in seinem Zimmer bei den Eltern.
In der Nacht haben sie darüber gesprochen, was aus Dora wird, wenn er in ein Sanatorium geht. Dass sie in seiner Nähe bleibt, sich ein Zimmer nimmt, ihn besucht, in einer waldigen Gegend, in der man spazieren gehen und auf einer Bank die Frühlingssonne genießen kann. Sie sagt, dass sie sich inzwischen fast freut, der Onkel war ja sehr für Davos, aber das ist ihr egal, sie wird nicht aufhören, sich über jeden Tag zu freuen. Jetzt, am Morgen beim Frühstück, könnte er erzählen, dass er über eine neue Geschichte nachdenkt, nicht allzu genau, gestern, als sie längst schlief, eine Art Bilanz, wieder etwas mitTieren, über Musik, den Gesang, wie alles zusammenhängt. Vielleicht nimmt sie es ja als gutes Zeichen, denkt er, und tatsächlich ist sie sehr erfreut, dass er Pläne hat, das Leben geht weiter, womöglich sogar in Prag, um den misslichen Namen zur Abwechslung auszusprechen, denn notfalls ginge er mit Dora auch nach Prag.
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12
E S IST SO GUT WIE SICHER, dass sie Berlin verlassen, und dennoch gibt es weiter schöne Momente, nachmittags, wenn sie zu ihm ins Bett schlüpft, wenn er etwas isst, sein Blick, seine Dankbarkeit, obwohl es ja an ihr wäre, dankbar zu sein, seinen Händen, seinen Füßen, ja doch, dass sie immer zu ihr gelaufen sind, in Müritz die ersten Nachmittage. Nur weil Franz und sie vielleicht wegmüssen, möchte sie die Tage nicht gering schätzen, denn es sind Tage mit ihm, das gemeinsame Leben. Sie geht ungern aus dem Haus und versucht beim Einkaufen in der Nähe zu bleiben, aber in der Nähe ist nicht viel, sie muss weit laufen, fürchtet jedes Mal wer weiß was, nach einer Stunde, wenn sie zurückkehrt und ihn hört, den Klang seiner Stimme, an dem sie erkennt, was ist.
Seit einigen Tagen hustet er schlimmer als je zuvor. Im Grunde hat sie seinen Husten noch nicht kennengelernt, aber jetzt holt sie das nach, es sind richtige Anfälle, die manchmal über Stunden gehen, morgens wie abends. Franz schickt sie immer weg, denn er benutzt das Fläschchen, er möchte nicht, dass sie sieht, was er damit macht, und es scheint dauernd voll zu sein. Einmal hat sie danach gefragt und auch etwas gesehen, da wurde er fast böse. Die Temperatur ist konstant um die 38 Grad, aber deshalb hat er keine Angst, sagt er, er liegt auf der Veranda in der Sonne und hat nur Angst vor dem Sanatorium.
Sie stellen sich weiterhin auf Davos ein. Franz hat gefragt, ob sie zusammen über Prag fahren. Ein Sanatorium im Wienerwald wird vorübergehend in Betracht gezogen, die Familie bemüht sich nach Kräften, etwas Passendes für ihn zu finden. Franz hat wie immer Bedenken wegen der
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