Die Herrlichkeit des Lebens
hat drei verpfuschte Romane geschrieben, ein paar Dutzend Geschichten, dazu sein Leben lang Briefe, überwiegend an Frauen, die nicht in seiner Nähe waren, Briefe und immer wieder Briefe, in denen nur stand, warum er nicht bei ihnen war und nicht mit ihnen lebte.
Er fühlt sich schwach und zermürbt und zugleich entschlossen. Er hat bereits überlegt, ob er Dora bittet, das eine oder andere zu vernichten, das Gekritzel der vergangenen Monate, alles bis auf die beiden letzten Erzählungen. Vielleicht hat er die wahren Geschichten ja noch nicht geschrieben, vielleicht liegt das alles noch vor ihm, wenn der schreckliche Winter vorbei ist, wenn er bei Kräften ist, an welchem Ort auch immer.
Immerhin das Wetter ist stabil. Man kann auf der Veranda in der Sonne sitzen und sich von Dora verwöhnen lassen, die darauf achtet, dass er in seine Decke eingewickelt ist. Sie bringt ihm die Post, etwas zu essen, ein Glas Milch oder Saft, und dann blickt er sie freundlich an, fast entspannt, bis nachmittags um vier, als sie mit der Karte des Onkels kommt, in der er seinen Besuch ankündigt. Was ist?, fragt sie, und er, weil er sofort begreift, dass das das Ende ist: Sie haben den Onkel geschickt. Noch am Abend beschwert er sich brieflich bei den Eltern, gibt sich erstaunt, obwohl er wütend ist und sich zu wehren versucht; die Sorgen seien unbegründet, für den Onkel sei Zehlendorf gänzlich uninteressant, eine so weite Reise nicht wert.
Am nächsten Tag ist er da. Wäre beim Umzug seine Telefonnummer nicht verloren gegangen, hätte man die Reise vielleicht in letzter Minute verhindern können, aber so nehmen die Dinge ihren Lauf. Am frühen Nachmittag klingelt es an der Tür, und keine fünf Minuten später stehtdas Urteil des Onkels fest. Der Doktor brauche dringend eine Kur, Berlin sei Gift, er müsse so schnell wie möglich an einen anderen Ort, nach Davos, in die Berge, nur um Himmels willen weg aus Berlin. Dora bittet ihn, sich zu setzen, aber der Onkel lässt sich von seinen guten Ratschlägen nicht abbringen, inspiziert wie nebenbei die Wohnung, die er gerade so durchgehen lässt, wenngleich er später meint, dass es recht gemütlich sei, etwas ärmlich, doch nicht so arg wie von den Eltern befürchtet.
Danach ist die Sanatoriumsfrage kein Thema mehr. Der Onkel ärgert sich über die Preise, ist aber voll des Lobes für die Stadt, macht mehrfach lange Spaziergänge, vom großartigen Potsdamer Platz über die Leipziger zum Alexanderplatz, belauscht im Café Josty zwei Antisemiten, denen man ihre Dummheit an der Nasenspitze ansieht. So der erste Eindruck. Er hat sich die Verhältnisse schlimmer vorgestellt, die Wahrheit ist, er mag Berlin, auch die Heidestraße, wo er Dora mehrfach zu überreden versucht, mit ihm ins Theater zu gehen, eine junge Frau wie sie müsse unter Leute. Er fragt sie nach ihrer Familie, wie sie nach Berlin gekommen ist, was vor Franz war. Einmal, als sie kurz weg ist, klopft er dem Doktor anerkennend auf die Schulter, sein Mädchen sei wirklich reizend, so besorgt, so tapfer, so bescheiden.
Der Onkel übernachtet in einer Frühstückspension am Wannsee, deshalb erscheint er nicht vor elf nach dem zweiten Frühstück. Am dritten und letzten Tag ist die Stimmung besser denn je, eine gemeinsame Karte an die Mutter wird geschrieben, die Bilanz des Onkels scheint nicht gar so übel, Franz sei in Zehlendorf sehr gut aufgehoben. Aber ein Verdacht wegen der Reise bleibt. Am Abend begleitet Dora den Onkel zu einer Lesung von KarlKraus, den der Doktor zwar nicht sonderlich schätzt, aber was soll’s, Dora ist entzückt, sie amüsiert sich prächtig, auch später, bis nach Mitternacht in einem leeren Lokal, wo sie mit dem Onkel noch einmal die Alternativen durchgegangen ist.
Beim Abschied sagt der Onkel: Du weißt, dass du hier nicht bleiben kannst. Ich begreife gut, dass du es nicht wünschst, aber anders geht es leider nicht. Schau dich an, sagt er, schau Dora an, sie denkt nicht anders als ich. Alles in allem ist es kein guter Moment, der Onkel wirkt bekümmert, während Dora nur nickt, enttäuscht, erschöpft, auch erleichtert, wie ihm scheint, als hätte sie gerade erst entdeckt, welche Last sie mit ihm trägt.
Der Doktor hat es im letzten Moment versprochen. Er wird Berlin verlassen, schweren Herzens, mit einem klitzekleinen Rest Hoffnung. Vielleicht müssen sie ja nur warten. Man muss Geduld haben, sagt Dora, ich habe alle Geduld der Welt, um sogleich aufzuzählen, warum es nicht möglich ist,
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