Die Herrlichkeit des Lebens
gestern stand sie vor der Tür und erkundigte sich nach Franz. Die Wohnung ist bis Ende März bezahlt, aber wenn es nach Frau Busse geht, braucht sich Dora nicht zu sorgen, schon gar nicht wegen der Sachen, denn es gibt einen Keller, das Haus ist groß und leer, sie habe sich leider immer noch nicht daran gewöhnt. Dora hat sie kurz hereingebeten, man sitzt bei einer Tasse Tee und redet überdie Männer, die nicht da sind, die schreckliche Spanische Grippe, die Millionen von Menschen das Leben gekostet hat, damals, in den letzten Kriegswochen und dem darauffolgenden Winter. Am fünften Tag morgens um acht ist er gestorben, sagt Frau Busse, und Dora erwähnt, dass auch Franz die Grippe gehabt hat und lange nicht sicher war, ob er sie überleben würde. Irgendwie kommen sie aufs Schreiben, denn das ist die andere Gemeinsamkeit ihrer Männer, wenngleich Dora nie eine Zeile Busse gelesen hat und Frau Busse nie eine Zeile von Franz. Einmal nennt Frau Busse sie armes Kind, dann wieder möchte sie wissen, warum sie und Franz nicht verheiratet sind; solange beide leben, sei es ja beinahe egal, aber als Witwe denke man doch anders. Oder lehnen Sie die Ehe ab? Mein Mann war in diesen Fragen sehr streng, zum Glück weiß er nicht, in welche Zeiten wir geraten sind. Sie haben etwas sehr Jüdisches, sagt sie, na ja, die Nase, glaubt sie, weil Dora so hübsch ist, im Allgemeinen seien Jüdinnen doch sehr hübsch.
Sie trifft sich mit Judith, die Frau Busse eine Antisemitin nennt und findet, dass man sich von einer Antisemitin nicht helfen lässt. Aber leider ist das nicht mehr die Frage, denn Franz hat geschrieben, dass es mit Davos nichts wird, man hat ihm keine Einreisegenehmigung erteilt, alle Pläne haben sich zerschlagen. Die genauen Gründe teilt er nicht mit, doch er wird aus Prag vorläufig nicht wegkönnen, die Suche nach einem Sanatorium beginnt von vorn, sie werden sich so bald nicht sehen. Dora sagt, dass sie das Warten verrückt macht, dabei ist er erst seit einer Woche fort, und im Herbst waren es mehr als sechs Wochen. Judith redet dauernd von diesem Arzt, der sie natürlich verführen will oder längst verführt hat, so genau will sie sich dazu nicht äußern. Sie sieht sich schon als Bäuerin,mit einem Spaten in einer Wüste, zusammen mit diesem Fritz. Sie macht einen Scherz über die beiden Namen, das F und das R, offenbar bringen die beiden Buchstaben Glück, wenngleich die Reise nach Palästina keineswegs sicher ist, es ist gar nicht so leicht, eine Genehmigung zu erhalten, und verheiratet ist ihr Fritz leider auch. Man muss abwarten, sagt Judith und klingt sehr nachdenklich dabei, vielleicht lebe ich ja das falsche Leben, anders als du, selbst wenn du dir große Sorgen machst, denn auch darum beneide ich dich.
Die Abende sind am schwersten. Wenn sie ihm schreibt und spürt, dass sie ihm nicht nahekommt, dass sie nicht da ist, wo sie sein sollte, dass sie ihn nicht trösten kann. Einmal schreibt er von einem Traum. Straßenräuber haben ihn aus der Wohnung in der Heidestraße entführt und auf einem Hinterhof in einen Schuppen eingesperrt, und als wäre das nicht schlimm genug, sie fesseln und knebeln ihn, lassen ihn allein, in einer dunklen Ecke in diesem Schuppen, sodass er sich schon verloren glaubt, aber vielleicht doch nicht, denn plötzlich hört er ihre Stimme, ganz in der Nähe deine wundervolle Stimme. Er versucht sich schnell loszumachen, kann sich sogar den Knebel aus dem Mund reißen, aber eben in diesem Augenblick wird er von den Räubern entdeckt, und sie knebeln ihn von Neuem. Ist das nicht ein enttäuschender Traum, gerade, weil er so wahr ist? Er würde gerne anders von ihr träumen. In gewissem Sinne träume er ja ununterbrochen von ihr, nachmittags im Bett, an den Abenden mit den Eltern, wenn er spazieren geht, denn gestern ist er den halben Weg zum Hradschin gegangen, allein und wieder nicht allein, denn dauernd habe er ihr etwas gezeigt, nur so in Gedanken, als wäre sie hier in Prag, für ein paar Stunden, um mit ihm durch die vertrauten Gassen zu gehen.
So hangelt sie sich von Brief zu Brief. Sie wartet morgens auf den Abendbrief und findet bei ihrer Rückkehr den Brief vom Morgen. Oft liest sie im Stehen, noch im Mantel, um nur ja keine Zeit zu verlieren, auf dem Weg zur Bahn, weshalb ihr manches entgeht und sie so am Ende zwei Briefe hat, einen ersten, der wie Musik ist, und einen zweiten, der aus Worten besteht. Ein neues Sanatorium ist weiterhin nicht in Sicht, und dann auf einmal
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