Die Herrlichkeit des Lebens
wenn er behauptet, schlafen zumüssen, und dann oft schläft, gelegentlich etwas notiert, eine Sterbeszene auf dem Land, von der er geträumt hat, warum man den Tod nicht fürchten muss. Jetzt, am späten Nachmittag, ist er ausnahmsweise allein. Er liegt im Bett, alles ist angenehm ruhig, die Eltern sind ausgegangen oder lesen Zeitung. Er weiß, dass es die letzten Tage oder Stunden sind, aber er empfindet nichts, hat nur ein dumpfes voreiliges Gefühl der Erleichterung, und tatsächlich, am nächsten Morgen hat er die Einreiseerlaubnis, übermorgen verlässt er die Stadt.
Da ihn der Onkel wegen einer lange geplanten Venedigreise nicht bringen kann, erklärt sich Ottla bereit, was ihm von allen Möglichkeiten die liebste ist. Es wird überlegt, was er für das Sanatorium braucht, es werden Koffer geholt, Ottla und die Mutter packen, sodass er die nächsten Stunden kaum Ruhe hat. Am Abend ruft er Dora an, die bei Judith ist und gerade Essen macht. Offenbar hat er sie erschreckt, sie hat Mühe mit seiner Stimme, aber dann freut sie sich, endlich hat das Warten ein Ende. Mein Gott, ich glaube es nicht. Bist du’s wirklich? Es ist sehr seltsam, mit ihr zu telefonieren, als wäre sie nicht weit weg, praktisch nebenan, sodass er seinen alten Widerwillen kurz vergisst. Dora will sich gleich morgen Früh eine Fahrkarte nach Wien besorgen, auch ein Zimmer wird sie brauchen, am besten in der Nähe des Bahnhofs, in ein paar Tagen, Liebster, denk nur, in ein paar Tagen. Zu Beginn des Gesprächs war sie fast schüchtern, aber jetzt klingt sie richtig fröhlich, sie lacht, redet zwischendurch mit Judith, die ihn grüßen lässt, sagt noch einmal, wie überrascht sie gewesen ist, deine Stimme am Telefon, wer hätte das gedacht. Wenn es nach ihr ginge, würde sie gar nicht mehr aufhören und immer so weiter mit ihm plaudern, im Bett, unter der Decke, mit deiner Stimme.
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D IE T AGE VOR DER A BREISE verbringt sie wie im Nebel. Sehr schnell wird ihr alles fremd, die Gesichter auf den Straßen, der Verkehr, die niedergedrückte Stimmung. Franz hat darauf bestanden, dass sie nur für ein paar Tage zu ihm reist, doch ihr Gefühl sagt ihr, dass es für immer ist. Am schwersten fällt ihr der Abschied vom Volksheim, von Paul, der sie unablässig beschwört: Der Doktor müsse gesund werden, natürlich werde er das, wenn es ihm besser geht, lebt ihr wieder in Berlin. Er möchte, dass sie es verspricht, aber das kann sie nicht, außerdem muss sie zu den Kindern, die ein Heft mit hebräischen Liedern für sie haben; es wird gebetet und gesungen, dann muss sie alle reihum umarmen, erst lange nach sechs reißt sie sich los.
Zu erledigen gibt es nicht mehr viel. Judith fragt sich, wie Dora um Himmels willen mit so wenig Gepäck auskommen will, für Palästina wird sie mindestens das Doppelte brauchen, Wintersachen ja wohl nicht, dafür jede Menge Bücher für die lauen Abende, an denen sie hoffentlich zum Lesen kommt. Derzeit sieht sie sich mehr als Krankenschwester, an der Seite von Fritz, mit dem sie offensichtlich ein Verhältnis hat, denn dauernd sagt sie Wir, was sie sich überlegt haben, er und sie. Judith hat gekocht, und diesmal gibt sie sich richtig Mühe, nimmt Dora in den Arm, versucht ihr Mut zu machen. Du biststark, sagt sie, du liebst ihn, ihr werdet es schaffen. Dora hat seit dem Morgen daran gedacht, dass er jetzt mit Ottla im Zug sitzt, wie lange sie noch haben. Jetzt, am frühen Abend, ist er sicher längst im Sanatorium. Sie stellt sich vor, wie er erschöpft ins Bett fällt, und ist froh, dass er Ottla hat. Sie erzählt ein wenig von Ottla und dann wieder von Franz, und Judith gesteht, dass sie nicht weiß, ob ihr Fritz der Richtige ist, aber das ist ein altes Thema, wie erkennt man, ob es der Richtige ist. Schon in Döberitz haben sie darüber gesprochen, damals, als sie beide nicht ahnten, was aus ihnen werden würde. Judith sagt: Ich hätte dich gerne mitgenommen, und für einen Moment ist das ziemlich schlimm, denn in diesem Moment möchte sie am liebsten mit.
Erst auf dem Weg zum Bahnhof wird sie ruhig und klar. Judith hat sie unbedingt begleiten wollen, sie sind spät los, deshalb bleibt kaum Zeit, sich zu verabschieden. Dora muss versprechen, so bald wie möglich zu schreiben, und dann ist sie schon auf ihrem Platz, auf dem Weg zu Franz. Sie hat seine Briefe mit, alles, was sie im Januar behalten hat, eine Handvoll Hefte, die ihr nicht gehören und die sie ohne sein Wissen gerettet hat. Die längste Zeit
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