Die Herrlichkeit des Lebens
ERSTEN T AG LASSEN SIE DEN D OKTOR noch in Ruhe. Bei der Aufnahme haben die Ärzte manches gefragt, nach dem ungefähren Verlauf der Krankheit, wann und wie oft er hustet, über den Schleim, das Blut, damals in jener Nacht, das Fieber in Berlin, das erste Piepsen in Prag, was sie mit ihm vorhaben, sodann über die Wirkung von Menthol, dass sie eine Besprühung des geschwollenen Kehlkopfes derzeit für die beste Maßnahme halten, schließlich müsse er essen, sein Gewicht sei unter fünfzig, weiter dürfe es nicht fallen. So reden sie mit ihm, nicht unbedingt offen, als hätten sie sich verständigt, nur immer das Nötigste preiszugeben, aber sehr viel genauer möchte er es womöglich nicht wissen. Auch mit seinen Bettnachbarn hat er schon Bekanntschaft gemacht. Man hat sich begrüßt, mit einem Nicken oder Winken, denn zu viel mehr sind sie nicht in der Lage. So im Vergleich fühlt er sich fast wie ein Gesunder. Die Schmerzen im Hals sind unerträglich, aber er hat eine Stimme, trinkt, in vorsichtigen Schlucken, über den Vormittag verteilt jede halbe Stunde. Erfreulich ist sein Zustand nicht, aber er beißt die Zähne zusammen, vor allem vor Dora, die zum Stephansdom spaziert ist und einen betrübten Eindruck macht. Er schreibt ein paar Zeilen an die Eltern, die üblichen Lügen, dass er gut untergebracht sei, unter der besten ärztlichen Aufsicht, ohne dass abzusehen ist, wie lange. Dora stört ihn immerfort mit Fragen, sie benetzt mit einem nassen Lappen Stirnund Lippen, sie hat ihn zur Begrüßung geküsst und küsst ihn später wieder, lange nach Ende der Besuchszeit, unter den tadelnden Augen eines Pflegers.
Der Arzt, von dem er die erste Einspritzung erhält, ist neu im Haus, in Doras Alter, anfangs unangenehm nervös, sodass die Dinge leider dauern. Die Pinselspritze hat eine lange gebogene Nadel, die doch einigermaßen zum Fürchten aussieht, doch das Unangenehmste sind die Prozeduren davor, das Blättern in Papieren, das Aufziehen der Flüssigkeit, während man zitternd auf einer Art Pritsche liegt, halb Bett, halb Stuhl. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, sagt der Arzt, einen Namen, der sofort weg ist, und dann fährt er mit dem metallenen Ding tief in seinen Rachen, stochert ein halbe Ewigkeit herum, bis alles an der gewünschten Stelle ist und eine ölige Flüssigkeit verteilt wird. Ist es noch drin oder schon draußen? Viel festzustellen ist fürs Erste nicht, ein gewisses Brennen, die Erleichterung, dass es überstanden ist, eine leichte Besserung, wie er um die Mittagszeit zu bemerken glaubt, wenngleich an Essen weiter nicht zu denken ist. Aber er fühlt sich besser. Kurz nach eins kommt Dora, er ist munter und vergnügt und kann sich sogar freuen, dass sein Schwager Karl ohne Vorwarnung in der Tür steht. Ob er zufällig in der Stadt ist oder Elli ihn geschickt hat, ist nicht herauszufinden. Er bestellt tausend gute Wünsche, bringt eine Zeichnung von Gerti, auf der man den Strand von Müritz erkennen kann, im Vordergrund eine Burg, ein Strandkorb mit schwarzem Männchen, dazu ein Pfeil, der mit Onkel Franz beschriftet ist.
Auch am nächsten Tag besucht ihn der Schwager, aber diesmal ist die Stimmung gedrückt, denn in der Nacht hat es einen Todesfall gegeben, Dora will es lange nichtglauben, während Karl mehr oder weniger darüber hinweggeht. Ein älterer Mann, ein Bauer aus der Gegend, wie der Doktor vermutet. Gegen drei, halb vier habe er plötzlich keine Luft bekommen; ein Arzt und ein Pfleger seien erschienen, aber man habe gar nichts tun können. Er hat gesehen, wie sie sich im Halbdunkel über das Bett beugten und den Kopf schüttelten und den Gestorbenen schließlich aus dem Zimmer rollten. Sonst gibt es nicht viel zu sagen. Man bespricht die Wirkung der zweiten Injektion, dass das Schlucken nicht mehr gar so wehtut, weshalb er am Abend sogar essen kann, ein paar Löffel Kartoffelbrei, aber immerhin. Karl hat beim Abschied versprochen, die Lage nicht in allzu düsteren Farben zu malen, sonst werden sie in Prag noch verrückt und schicken wieder den Onkel, der im verregneten Venedig sitzt; es ist bereits ein Telegramm an ihn unterwegs, man kann nur hoffen, dass es ihn nicht erreicht. Ist Karl als Gesandter der Familie nicht genug? Statt weiteren Besuch bräuchte er eine Daunensteppdecke, dazu ein Polster, denn anders als im Sanatorium scheint es hier nur das Nötigste zu geben, man fühlt sich wie in einer Fabrik, zumal sich auch die Ärzte nicht sonderlich kümmern und bei ihren
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