Die Herrlichkeit des Lebens
wieder umziehen muss, was ja leider bedeutet, dass man ihn auch hier zu den aufgegebenen Fällen zählt, denn warum sonst haben sich die Ärzte in den vergangenen Tagen kaum blicken lassen.
Abgesehen vom Durst ist sein Zustand erträglich, obwohl er weiter an Kraft verliert. Er spürt es bei jeder Bewegung, am Morgen, wenn er zum Waschen geht, als wäre da eine undichte Stelle, eine Flüssigkeit, die ruhig und stetig aus ihm herausfließt. Und dabei bringt ihm Dora alle möglichen Stärkungen, zum Frühstück fette Milch oder Kakao und später Eierspeisen, dann zu Mittag Huhn oder Kalbskotelett, gebratene, zerdrückte Tomaten, gemischt mit Butter und Ei, Blumenkohl oder junge Erbsen, zum Nachtisch Torte mit Schlagsahne, manchmal Bananen oder einen Apfel, dann zur Teezeit wieder Kakao oder Milch mit Butterflocken und zum Abendessen wieder etwas mit Eiern. Oder ist das viele Essen der Grund für seine Mattigkeit? Selbst in den wenigen Stunden mit Dora hat er Mühe, wach zu bleiben, auch als Felix überraschend für eine Stunde kommt, doch diese Stunde bringt er noch eben zustande. Felix lässt sich nicht anmerken, wie er den Zustand des Doktors findet, freut sich, die Bekanntschaft von Dora zu machen, hat ein freundliches Wort für Josef, bevor er die Grüße aus Prag bestellt, von Max und Oskar, die aus der Ferne an ihn denken. Für Dora ist der Besuch eine willkommene Abwechslung, sie seien bester Dinge, wenn das Wetter es zulasse, könne man in Kürze nach draußen. Sogar das Wort Genesung nimmt sie in den Mund, wie froh sie ist, dass sie von hier bald wegsind. Vor zwei Wochen, denkt er, war die Hoffnung das Sanatorium, eine Woche später hieß sie Wien, und jetzt heißt sie also Kierling. Felix hat wie immer viel Arbeit mit der Selbstwehr , die der Doktor weiterhin regelmäßig liest. Die Eltern haben kürzlich die jüngste Ausgabe geschickt, aber er hätte sie gerne direkt, zur Lektüre auf dem Balkon, denn Dora hat gesagt, dass es in Kierling einen Balkon gibt, auf der Südseite, sodass man jetzt schon einige Stunden Sonne haben dürfte, was für den Moment beinahe wie eine Verheißung klingt.
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N ACH KNAPP ZWEI W OCHEN ist von Doras Hoffnungen nicht mehr viel übrig. Nie hätte sie gedacht, dass sie eines Tages so ein Leben führen würde, dennoch führt sie es, nimmt es irgendwie hin, wie eine Schiffbrüchige, die auf eine unwirtliche Insel verschlagen worden ist, so gut es eben geht, und es geht nicht immer. Abends im Hotel ist sie regelmäßig am Ende ihrer Kräfte, erschöpft und zugleich aufgekratzt, denn dauernd gibt es kleine Aufregungen, am Morgen das Telegramm von Robert, der ohne Rücksprache seinen Besuch ankündigt und nur mit drastischen Formulierungen davon abgehalten werden kann. Franz zählt inzwischen jede Stunde, er möchte nur weg, es ist ihr letzter Tag in Wien. Sie hat eine Kleinigkeit im Restaurant gegessen, wo sie von niemandem sonderlich beachtet wird, das Haus ist nicht sehr voll, deshalb haben die Kellner kaum zu tun, dauernd steht einer an ihrem Tisch und erkundigt sich nach ihren Wünschen. Sie hat um Papier und Stift gebeten, denn sie will noch an seine Eltern schreiben, nur sie allein, was sich einigermaßen seltsam anfühlt und das Lügen nicht einfacher macht. Sie berichtet von der bevorstehenden Übersiedlung, alles geschehe mit Einverständnis der Ärzte, was die Tatsachen auf den Kopf stellt, denn in Wahrheit haben sie bis zuletzt abgeraten, aber bitte, Franz ist munter und lebhaft, und vom neuen Sanatorium schickt sie demnächst Prospekte.
Am Abreisetag ist die Stimmung auf dem Tiefpunkt, denn in der Nacht ist Josef gestorben, der noch bis zum Abend fröhlich herumgelaufen ist. Es ist das erste Mal, dass sie Franz weinen sieht, voller Zorn, als lasse sich beim besten Willen nicht begreifen, warum einer wie Josef sterben muss. Hätten die Ärzte nicht besser auf ihn aufpassen können? Dora begreift es vor allem als Warnung; wenn einer auf den Beinen ist und gut isst, heißt das noch lange nicht, dass er leben wird. Wieder werden letzte Nachrichten geschickt, eine Karte an Max, der die Geschichte mit den Mäusen verkauft hat und wissen möchte, an welche Adresse er das Geld schicken soll. Das Wetter ist zum Glück herrlich. Um die Mittagszeit brechen sie auf, nehmen zum Bahnhof einen Wagen und erreichen gerade rechtzeitig den Zug, der ohne Umsteigen bis Klosterneuburg fährt. Felix begleitet sie. Alle sind erleichtert, dass sie die Klinik hinter sich haben, man atmet
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