Die Herrlichkeit des Lebens
träumt sie nur, blättert in der Zeitung, wartet, dass die Zeit vergeht. Der Schaffner kommt, irgendwann erreichen sie die Grenze, wo sie ihren Pass zeigt, das Gepäck oben auf der Ablage. Für Franz endet gerade der zweite Sanatoriumstag, keine zwei Stunden von ihr entfernt. Eine Ungarin, mit der sie ins Gespräch gekommen ist, hat ihr das Hotel Bellevue empfohlen, es ist gleich um die Ecke. Ist sie wirklich in Wien? Die Stimmung scheint nicht gar so anders als in Berlin, der Geldwechsler im Bahnhof ist nicht eben freundlich, aber ein winziges Zimmer unter dem Dach kann man ihr geben, sie hat einen weiten Blicküber die Gasse, sie hört den Bahnhof, an dem vor Tagen auch Franz angekommen ist.
Am nächsten Vormittag ruft sie in Prag an. Sie hat Glück, dass Elli an den Apparat geht, denn mit Elli hat sie bereits gesprochen, damals, kurz vor Weihnachten, als sie ähnlich atemlos geklungen haben muss. Was sie erfährt, ist nicht viel. Franz hat die Reise wohlbehalten überstanden und bittet um ihre Wiener Adresse, sie soll nicht früher losfahren, als sie nicht Antwort von ihm hat. Sie erhält die Adresse des Sanatoriums, schickt ein sündhaft teures Telegramm, in dem nur steht, dass sie bereit ist, das Hotel, Adresse und Telefonnummer, wie sie sich sehnt. Noch heute Nachmittag kann sie bei ihm sein. Dann wartet sie, mit einem Anflug von Unwillen, den sie sich kaum eingesteht, denn warum macht er die Dinge so kompliziert. Die ersten Stunden gehen irgendwie hin. Eine Antwort dauert, hab Geduld, sagt sie sich, aber dann, ab dem Nachmittag, wird es eine Qual. Er könnte sie anrufen oder anrufen lassen. Bitte ruf mich an. Oder geht es ihm so schlecht? Bis lange nach neun sitzt sie in der Hotelhalle, isst zwischendurch im Restaurant, in einem Zustand stummer Verzweiflung. Morgen, beruhigt sie sich, die eine Nacht noch. In seinem letzten Brief klang er so sanft und sehnsuchtsvoll, und so liest sie zum Trost seinen Brief, schaut wieder und wieder zur Rezeption, wo das Telefon ist, die schmalen Fächer für die Post, die meisten leer, oben die ersten Reihen, in denen ein Fach für sie ist.
Den nächsten Tag rennt sie nur. Er hat geschrieben, dass er sie erwartet, und seither scheint sie zu fliegen, eilt zum Bahnhof, wo sie in den ersten Zug nach Pernitz steigt. Auch während der Fahrt bleibt sie immerzu in Bewegung, läuft im Wagen auf und ab, registriert draußen die neue Landschaft und liest zum hundertsten Mal das Telegramm. Bei der Ankunft in Pernitz kennt sie sich zuerst nicht aus, fragt einen älteren Bauern nach dem Weg, angeblich gibt es einen Bus, der aber selten fährt, sodass sie lieber zu Fuß geht, eine kurvige Straße, bei herrlichstem Sonnenschein. Anfangs ist das Tal sehr eng, dann allmählich weitet es sich, hie und da ein Hof, und dann, nach über einer Stunde, entdeckt sie in der Ferne das Sanatorium, einen hohen, breiten Bau mit zwei Türmen, viel größer als das Hotel in Wien, fast ein Schloss. Es ist nicht besonders warm, trotzdem sieht man im Näherkommen überall Patienten in Schlafröcken, auch auf den Balkonen, wo sie vergeblich nach Franz Ausschau hält, Schwestern in weißer Tracht, die Rollstühle durch den Park schieben oder Kranke beim Gehen stützen. Sie hat sich den Ort trostloser vorgestellt. Und dennoch ist da eine gewisse Scheu, drinnen an der Rezeption, wo man ihren Namen wissen will und sie nicht zu ihm lässt, aber dann doch, im ersten Stock links sei sein Zimmer. Auf den letzten Metern meint sie vor Aufregung zu zerspringen. Sie klopft, und als niemand antwortet, geht sie einfach zu ihm, steht vor seinem Bett und erkennt ihn kaum. Sie wagt ihn nicht zu küssen, steht am Ende der Welt in diesem Zimmer und sagt: Ich bin da. Endlich, sagt sie. Er lächelt, zeigt mit einer Bewegung des Kopfes auf einen Stuhl, etwas verschlafen, offenbar hat sie ihn geweckt. Er flüstert, aber anders, als sie es kennt, sie fragt, was um Himmels willen mit seiner Stimme ist, und erst jetzt setzt sie sich aufs Bett, nimmt seine Hand, mit einem vorsichtigen Druck, den er sofort erwidert. Auf den ersten Blick ist er unverändert. Er ist schwach, schmaler als zuletzt in Berlin, aber es ist Franz. Anfangs denkt sie nur das: Ich bin hier bei ihm, alles andere kümmert mich nicht. Sie hört nicht richtig zu, was er sagt, die Namen der Medikamente, dass er Schmerzen hat. Das Flüsternallein wäre nicht der Rede wert, aber die Krankheit hat auf den Kehlkopf übergegriffen, die Ärzte reden von einer Schwellung, zum
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