Die Herrlichkeit des Lebens
Er muss von hier nicht weg, jedenfalls so lange das Geld reicht, sie können zusammen auf dem Balkon sitzen und sich erinnern. Weiter als Berlin kommt er in der Regel nicht. Seine Hoffnungen sind nicht eben üppig, aber man kann von einer weiteren Ausfahrt träumen oder sich über die kleinen Nachrichten freuen, die Dora bringt, Grüße aus Prag oder Berlin, denn auch aus Berlin werden Grüße bestellt, von Judith, der er die Freude mit Doras Kleidern verdankt. Dora schreibt und telefoniert, und manchmal wundert er sich über ihre Kraft, zumal er leider weiß Gott kein guter Gesellschafter ist, denn immer öfter kann er vor Heiserkeit nicht sprechen, wird zu den unmöglichsten Zeiten müde und isst zu ihrer Enttäuschung viel weniger als nötig wäre.
Von der Kapazität aus Wien erzählt man, dass er schon einmal einen Patienten hätte behandeln sollen, aber dann, weil er drei Millionen verlangte, den Weg in letzter Minute nicht gemacht hat, im vergangenen Herbst, als auch hier die Preise in schwindelerregende Höhen stiegen. Den ganzen Vormittag warten sie auf ihn, und als er endlich erscheint, dauert die Sache keine halbe Stunde. Für die Kapazität ist er nur irgendein Schwindsüchtiger, ein Fall unter Abertausenden, aber da er nun einmal hier ist, macht er eine kurze Kehlkopfspiegelung, tastet ein bisschen herum und reist schließlich unter Hinterlassung einer Note zurück nach Wien. Dora ist wegen der Summe kurz erbleicht, obwohl sie weiter nichts sagt und dann eine Weile aus dem Zimmer geht. Man sieht ihr an, wie sehr sie der Besuch beschäftigt. Der Professor hat es nicht ausdrücklich gesagt, aber er ist ein hoffnungsloser Fall, wie jeder hier im Haus, und so weiß er sich wenigstens in guter Gesellschaft, während Dora so tut, als wäre es bloß ein dummer Besuch gewesen. Aber sie braucht Hilfe. Hätte er das nicht viel früher bemerken können? Einmal macht sie eine Andeutung, scheint darüber mit Robert gesprochen zu haben, denn plötzlich redet sie dauernd von Robert, dass es doch schön wäre, wenn er jemanden hätte, mit dem er plaudern könne, in den Zeiten, in denen sie in der Küche ist oder ins Dorf zum Einkaufen muss. Außerdem hat er wie Franz Tuberkulose, zum Glück im Anfangsstadium, doch er weiß Bescheid, auch darin wäre er unbedingt eine Hilfe. Gut, sagt der Doktor, obwohl er sich gegen Robert seit Langem sträubt, etwas hat ihn an ihm von Anfang an gestört, seine fordernde Art, seine Bereitschaft, sich zu unterwerfen.
Vorläufig kommt er nur zu Besuch. Dora holt ihn vom Bahnhof ab, während der Doktor im Schatten auf demBalkon liegt, halb nackt, mit einer Zeitung von vorgestern, die in der Post aus Prag gewesen ist. Drei Jahre ist es her, dass sie sich im Sanatorium kennengelernt haben. Der Krieg war längst vorbei, trotzdem redeten sie viel über den Krieg, denn Robert war an der Ostfront und dann in Italien, ein paar Jahre, in denen er sich die Krankheit holte. Wann immer sie sich trafen, wirkte er frisch und jugendlich, ein wenig weich, vor allem im Gesicht, in dem ein Hauch Bitterkeit war, weil er wegen der Krankheit sein Medizinstudium aufgeben musste. Wie nicht anders erwartet, hat er sich nicht sehr verändert. Er kommt in Anzug und Weste, die Haare wie immer zur Seite gescheitelt, ein gut aussehender Mann Mitte zwanzig. Offenbar haben er und Dora schon gesprochen, deshalb gibt es kaum Fragen. Aber er ist bereit, zu helfen, sagt, dass er sich freut, als habe er auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Für Dora ist seine Anwesenheit eine Wohltat. Sie zeigt ihm die Aussicht vom Balkon, das Zimmer, wo sie eine Weile stehen und reden, sogar den Speisesaal haben sie besichtigt, die Küche, in der sie kocht, ihr kleines Reich. Ein paar Tage will er bleiben, hier im Haus, wo zum Glück noch Zimmer frei sind, und so sind doch alle zufrieden, so mühsam der Alltag weiterhin ist, mehr und mehr das Sprechen, aber auch das Lesen, denn vor Tagen ist der neue Werfel eingetroffen, und so liest er hin und wieder, unendlich langsam, regelmäßig einige Seiten.
Es kehrt eine neue Ruhe ein, mehr in ihm selbst, hat er den Eindruck, denn äußerlich gibt es durchaus Betrieb, er bekommt Wickel und muss inhalieren, was wegen des Fiebers derzeit die einzige Behandlung ist. Gegen die von Dr. Hoffmann vorgeschlagenen Arseninjektionen wehrt er sich, und tatsächlich scheint das Fieber seit gestern zurückzugehen. Jetzt, am Morgen, hat er zum Beispiel nurerhöhte Temperatur, der Hals ist unverändert, die
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