Die Herrschaft Der Drachen 02 - Jandra
der zum größten Teil noch intakt war und wie ein Segel in die Luft ragte, kennzeichnete den Fleischberg vor ihr als Mitglied der königlichen Rasse.
Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass alle Hoffnungen auf eine friedliche Lösung sich aufgelöst hatten. Der Tod seines Sohnes Bodiel hatte Albekizan veranlasst, den Völkermord umzusetzen. Heute waren unzählige Söhne, Brüder und Väter durch Bogen der Rebellen getötet worden. Die Sonnendrachen würden jetzt eine Gruppe von lauter Albekizans sein, und im ganzen Königreich würde Menschenblut vergossen werden, wenn es nicht gelang, die Rebellen rasch zur Rechenschaft zu ziehen.
Sie biss sich auf die Unterlippe; sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie hatte diese Mission als Diplomatin übernommen. Shandrazel wollte, dass sie seine Attentäterin war. Konnte sie diesem Wahnsinn ein Ende bereiten, indem sie Ragnar tötete oder wenigstens gefangen nahm?
»Oh, Ven«, seufzte sie. »Was würdest du tun, wenn man dich bitten würde, ein Attentäter zu sein?«
Natürlich kannte sie seine Antwort. Vendevorex hatte ihr gestanden,
dass er sich viele Male als Attentäter von Albekizan hergegeben hatte. Tatsächlich hatte er ihre eigene Familie auf Albekizans Befehl hin getötet, einfach um seine Macht zu beweisen. Ihre eigene Lebensgeschichte bewies, dass er, wenn er gebeten wurde, als Attentäter tätig zu werden, geantwortet hatte: »Wie Ihr wünscht, Herr.«
Es war seltsam, sich Vendevorex als Mörder vorzustellen. Er war immer so nett zu ihr gewesen. Tatsächlich hatte sie nie erlebt, dass Vendevorex irgendjemandem gegenüber grausam gewesen wäre. Wenn er auch vielleicht der mächtigste Drache im Königreich war, so hatte er doch seine Fähigkeiten nicht missbraucht. Er hatte nie verärgert gehandelt, und sie hatte auch nie erlebt, dass er voller Groll gewesen wäre. Wenn Vendevorex sich entschieden hatte, seine Kräfte zum Töten einzusetzen, hatte er diese Entscheidung aufgrund von Logik getroffen, und er hatte nur gehandelt, wenn er das Gefühl gehabt hatte, dass die Gewalt einem größeren Wohle diente.
Und so konnte sie seinen Rat beinahe hören. »Einen einzigen Mann zu töten, könnte Zehntausenden das Leben retten, wenn sonst ein größerer Krieg ausbricht.«
Als sie das östliche Tor erreicht hatte, hatte sie sich selbst überzeugt. Sie war nicht als Diplomatin hier. Unsichtbar näherte sie sich dem blutverschmierten östlichen Holztor. Die gewaltige Holzkonstruktion wirkte, als wäre sie umgestürzt und dann hastig wieder aufgerichtet worden. Der Boden hatte sich in blutverschmierten Matsch verwandelt, der ihre Stiefel beschmutzte. Der Gestank von Erbrochenem hing in der Luft und brachte ihre Augen zum Tränen.
Und dann, als sie knöcheltief im dunklen Morast stand und Luft einatmete, die voller Tod war, erinnerte sie sich, wie sie einmal an einem ölverschmierten Strand gestanden und eine sterbende Seemöwe in den Händen gehalten hatte. Um des
größeren Wohles willen zu töten war kein Mord. Nur waren diese Hände, die die Seemöwe hielten, nicht ihre, oder? Und es war nicht ihre Entscheidung gewesen. Diese Erinnerungen gehörten Jazz. Sie schüttelte den Kopf, um die fremden Gedanken wegzuschieben.
Sie berührte das Holz des Tores und durchdrang es mit ihren Naniten. Sie gab den winzigen Maschinen ein paar Herzschläge Zeit, zwischen die Moleküle zu schlüpfen, ehe sie ein Loch hineinzwang. Ein großes Rechteck von fünf Fuß Höhe und zwei Fuß Breite zerkrümelte zu Sägemehl. Sie duckte sich unter das Tor hindurch und warf einen Blick zurück auf den Berg aus pulverisiertem Holz, das jetzt ein Puzzle aus einer Million unmöglich winziger Stücke darstellte. Vor ihrem geistigen Auge konnte sie erkennen, wie alle diese Stücke noch Sekunden zuvor zusammengepasst hatten. Sie nickte, und das Sägemehl stieg auf und wirbelte herum, während ihre Naniten es mittels magnetischer Impulse hochhoben. Sekunden danach begann das Loch, sich zu schließen. Einen Moment später war das Tor wiederhergestellt, als hätte sie es nie berührt.
In Shandrazels Lager war es so still gewesen wie in einem Leichenhaus. Drachenschmiede dagegen war selbst jetzt, nach Sonnenuntergang, voll Lärm. Männer riefen sich überall etwas zu, mit Hämmern wurde auf Metall geschlagen, und Dutzende von Karren mit toten Erddrachen darauf rollten auf einen zentralen Verbrennungsofen zu. Der Gestank hier drin war sogar noch schlimmer als draußen, da zu den anderen Gerüchen auch noch
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