Die Herrschaft Der Drachen 02 - Jandra
hinwies, dass nur noch ein paar Teelöffel Öl übrig waren. Plötzlich begriff sie, warum die Laterne sich so leicht angefühlt hatte. Es war das erste Mal, dass sie eine verwendete. Sie hatte zugesehen, wie ihr Vater eine benutzt hatte, und war sich ziemlich sicher, dass sie wusste, wie man sie nachfüllte. Ihr Vater hatte auch gesagt, dass überall in der Mine Ölfässer wären. War sie bereits an einem vorbeigekommen? War eines ein Stück zurück beim Aufzug gewesen?
Sie drehte sich um.
Die Laterne flackerte, und das Glas wurde dunkel vom rußigen Rauch. Sie begann zu laufen.
Und dann wurde alles schwarz.
Braune Schmiere bedeckte den Marmorboden in der großen Halle von Chakthallas Palast. Hier und da lagen bunte Scherben im Dreck; sie stammten von den zerbrochenen Fensterscheiben, die einmal die Halle gesäumt hatten, und glänzten im Feuerschein. Jandra kannte diesen Raum noch aus ihren Alpträumen – es war das Zimmer, in dem ihr die Kehle durchgeschnitten
worden war. Ein Teil des getrockneten Blutes auf dem Boden mochte ihr eigenes sein; es hatte sich längst mit Regen und verrottenden Blättern vermischt, die der Wind in den verlassenen Raum geweht hatte. Hier hatte sie miterlebt, wie der Sonnendrache Zanzeroth Vendevorex die Eingeweide aufgeschnitten und ihn dann zurückgelassen hatte, im Glauben, er wäre tot. Dies war der Raum, in dem sich das größte Rätsel ihres Lebens gelöst hatte, als sie die Wahrheit erfahren hatte – dass es Vendevorex gewesen war, der ihre Eltern getötet hatte, und das aus keinem anderen Grund, als sich gegenüber Albekizan zu beweisen.
Der Ort mochte schreckliche Erinnerungen bergen, aber sie wusste, dass es hier Räume gab, die groß genug waren, um Hex unterzubringen. Sie waren nur noch wenige Meilen vom Palast entfernt gewesen, als das Wetter umgeschlagen und es zu gefährlich geworden war, ihre Reise in der Luft fortzusetzen. Wenn erst einmal Nebel aufkam, war es dumm, noch weiterzufliegen.
Hex hatte sich neben der Feuerstelle im hinteren Teil des Raumes zusammengerollt und schlummerte. Sein Bauch verdaute geräuschvoll den jungen Hasen, den er unterwegs getötet hatte, nachdem er auf ihn herabgestürzt war. Er selbst hatte den größten Teil des Hasen roh verspeist, mitsamt Pfoten und allem anderen, aber Jandra hatte etwas Fleisch von einer Lende erhalten. Sie hatte ihren Anteil über dem Feuer gebraten und war ebenfalls satt. Eigentlich hätte sie jetzt auch schlafen können, aber eigenartigerweise war sie überhaupt nicht müde, obwohl ihr Bauch voll war und sie in den letzten Tagen nur wenig geschlafen hatte. Auch Vendevorex hatte nur selten geschlafen. Er hatte nicht mehr als ein paar Stunden pro Woche gebraucht, um ausgeruht zu sein. War auch das eine Folge des Helms?
Jandra vertrieb sich die Zeit damit, ihre Kleidung zu verändern. Sie spielte mit den physikalischen Eigenschaften der Fäden und hatte bereits die Farbe des Stoffes geändert; das Rot, das sie jetzt anstelle von Schwarz trug, passte zu Hex’ Fell. Sie hatte auch den Schnitt geändert; jetzt hing die Kleidung nicht mehr locker über ihren Körper, sondern wirkte wie eine zweite Haut, ohne unanständig zu sein. Der Stoff reichte von den Zehen bis unters Kinn; es gab nicht das geringste Stück nackte Haut zu sehen, abgesehen von den Fingern und Handflächen, denn selbst die Handrücken hatte sie mit roter, zarter Spitze in einem Schuppenmuster bedeckt. Ihre Brüste verschwanden hinter einer Lederweste, die sie aus den Molekülen des Schuhleders erzeugt hatte. Sie war so sehr mit ihrer neuen Fähigkeit, dem mentalen Nähen, beschäftigt, dass die Geister des Raumes sie nicht heimsuchten.
Unglücklicherweise war das bei Hex anders. Er schlief unruhig, und sein Kiefer spannte sich immer wieder heftig an, als würde er in seinen Träumen auf irgendeinem unsichtbaren Feind herumbeißen. Seine Klauen schlossen sich und zuckten. Plötzlich riss er den Kopf hoch und rief mit weit geöffneten Augen: »Nein!«
Jandra legte ihm eine Hand auf die Hinterklaue.
»Alles in Ordnung, Hex. Nur ein schlechter Traum.«
Hex starrte sie verblüfft an. Er zitterte und stieß einen langen Atemzug aus. »Ich habe vom Ritual der Nachfolge geträumt«, sagte er.
»Oh«, sagte Jandra. Beim Ritual der Nachfolge waren zwei von Albekizans Söhnen gegeneinander angetreten, um Jagd auf menschliche Sklaven zu machen. Der Sieger hatte die Chance erhalten, Albekizan im Kampf um den Thron herauszufordern. Der Verlierer
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