Die Herrschaft Der Drachen 02 - Jandra
hatte keine Ahnung, warum Anza nie gesprochen hatte; sie war nicht taub. Sie hatte einen scharfen Verstand. Sie konnte Rechnungen in ihrem Kopf bewältigen, für die er zwei Blatt Papier benötigte. Sie war eine Leseratte, aber sie hatte noch nie einen Stift in die Hand genommen, um zu schreiben. Sie verständigte sich mit ihm mittels einiger Handzeichen, die sie gelernt hatte, als sie noch in den Windeln gelegen hatte. Alles andere, was sie zu sagen hatte, teilte sie ihm mit ihren Augen mit.
Sie nickte in Richtung Eulenglas, als sie zu ihm trat. Er trat einen Schritt zurück, so dass sie einen Blick hineinwerfen konnte. Sie drehte die Eule um und bedeutete Burke, ihr neues Ziel zu betrachten. Das tat er und stellte fest, dass sie es auf die Stadttore gerichtet hatte. Rasch entdeckte er, was sie ohne Hilfe des Eulenglases gesehen hatte. Die Tore waren in der Erde verankert. Oder besser, im Laufe der Jahrhunderte hatten sich der Dreck und Staub der Stadt dort abgelagert und die unteren Teile der Tore bedeckt. Burke vermutete, dass die unteren zwei Fuß der Türen begraben lagen.
»Es überrascht mich nicht, dass diese Tore seit Jahrhunderten nicht mehr geschlossen worden sind. Seit die geflügelten Drachen die Herrschaft über diese Welt an sich gerissen haben, hatten Stadtmauern keinen Nutzen mehr bei der Verteidigung«, sagte Burke. Er drehte das Eulenglas herum und musterte andere Einzelheiten der Mauer. »Dieser Ort ist von Menschen vor der neunten Pest errichtet worden, als die größte Bedrohung noch in anderen Menschen bestanden hat. Die Pest hat den Drachen eine Gelegenheit geboten; ihre Art ist daraufhin aufgeblüht, während die Menschheit geschrumpft ist. Die Zahl der Menschen ist seither wieder gestiegen, aber wir hatten nie wieder solchen Erfolg. Wie du dir vorstellen kannst, passt das Leuten wie Ragnar nicht, der glaubt, sie hätten die Herrschaft über diese Welt von Gott zugesprochen bekommen.«
Anza warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Mach dir keine Sorgen, dass du darüber nicht Bescheid weißt. Ich habe dir absichtlich nicht viel über Gott und den Großen Geist oder sonst etwas in der Art erzählt. Ich hatte das Gefühl, dass es andere Dinge gab, die du studieren solltest, statt dich mit unsichtbaren Menschen zu beschäftigen, die im Himmel leben.«
Sie runzelte leicht die Stirn, warf dann einen Blick zum Horizont
– genau auf die Stelle, an der der Mond einige Stunden später aufgehen würde.
»Nein, es ist nicht so wie das«, sagte Burke. »Die Menschen auf dem Mond sind real. Selbst dann, wenn sie es nicht wären, würden die Menschen sich nicht daranmachen, Kriege zu führen, um ihnen zu gefallen. Niemand hat jemals wegen der Menschen auf dem Mond getötet.«
Anza schürzte die Lippen. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie zustechen, als wollte sie jemandem einen unsichtbaren Dolch in den Bauch stoßen, dann legte sie den Kopf schräg und wartete auf weitere Erklärungen.
»Nein«, sagte Burke. »Ich sage nicht, dass es falsch ist zu töten, wenn man einen guten Grund hat: sich selbst zu verteidigen, finanzieller Gewinn, politischer Vorteil, oder auch nur, um in Übung zu bleiben. Töten aus einem rationalen Grund ist in Ordnung. Töten, weil man glaubt, es würde dazu führen, dass ein unsichtbarer Mann im Himmel einen freundlich behandelt, wenn man tot ist, ist einfach nur geistesgestört.«
Anza nickte; jetzt hatte sie verstanden. Dann sah sie den Berg hinunter und rümpfte angewidert die Nase. Ihre Augen sagten: »Sieh nur, wer da kommt.« Ihre Nase sagte: »Ragnar.«
»Wo wir gerade von Geistesgestörten reden«, murmelte Burke.
Ein kühler Wind wehte über den Berg, als Ragnar, der Prophet des Herrn, zu ihnen trat. Ein pfeifendes Klagen drang von den Rosthaufen im Tal unter ihnen herauf. Burke zitterte in seinem schweren Wollmantel. Ragnar, der nichts als seine sonnengebräunte, ledrige Haut und eine wilde Mähne trug, wirkte auf glückselige Weise unempfindlich gegenüber der Kälte. Glückselig war vielleicht genau das richtige Wort, dachte Burke. Ragnar zog die Augen in einer ständigen Miene der Wut zusammen, aber Burke begann allmählich, den Mann hinter
dieser Maske zu sehen. Die wahre, schlummernde Fähigkeit dieses Mannes war nicht seine Wut, sondern seine Heiterkeit, eine ruhige, vertrauensvolle Zuversicht, die von seiner absoluten Gewissheit herrührte, dass jeder Atemzug, den er nahm, durch Gottes Willen über seine Lippen geweht wurde. Es war nicht einmal so,
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