Die Herrschaft der Orks
den Orks und Gnomen, die auf Wargen ritten, befanden sich zwar keine Reiter darunter, jedoch rund zweihundert Kaldronen, von denen jeder wie zehn schwer gepanzerte Kämpen zählte, dazu eine große Anzahl schwerer Katapulte und gepanzerter Wagen, die von Trollen gezogen wurden und auf einem Hügelgrat unweit der Stadt in Stellung gebracht worden waren.
Natürlich war es Dags erster Impuls gewesen, einen Ausfall zu wagen, noch während die Zwerge im Anmarsch waren, und dabei möglichst viele ihrer Belagerungsmaschinen zu zerstören. Doch sowohl Aryanwen als auch sein Vater hatten eingewandt, dass ein solches Unterfangen reiner Selbstmord wäre und das Opfer noch dazu völlig sinnlos; die Kaldronen allein hätten ausgereicht, um den Ansturm der Menschen zu stoppen und ihnen eine vernichtende Niederlage beizubringen – und wie viele von den knapp zweitausend verbliebenen Streitern wären danach noch übrig, um Andaril zu verteidigen?
Die einzige Chance der Menschen bestand darin, sich hinter der Trutzmauer, die die Trennung der Reiche einst besiegelt hatte, zu verschanzen und jede Handbreit davon unter Einsatz des Lebens zu verteidigen – und wieder auf die Hilfe zweier Unholde zu hoffen, denen die Verrückheit des Schicksals einmal mehr eine entscheidende Rolle im Kampf um Erdwelt zugespielt hatte …
»Bist du bereit, Sohn?«, fragte Herzog Osbert.
Sie standen auf dem großen Turm, von dem aus sich sowohl der Innenhof der Burg als auch die umgebende Stadt überblicken ließen. Sie konnten die Wehrgänge sehen, auf denen die Verteidiger Seite an Seite standen, ungeachtet ihrer Herkunft oder Herren. Ritter aus Tirgaslan standen Schulter an Schulter mit Bürgern aus Ansun, königliche Knappen hatten sich mit den Gardisten des Herzogs verbündet, Gemeine des Reiches und Soldaten aus Ansun würden gemeinsam die Bogen spannen und einen Pfeilregen auf die Angreifer niedergehen lassen. Dag wusste um die Bedeutung des Augenblicks, und ihm war auch klar, welche Bürde in diesem Moment auf ihm lastete. Denn während sein Vater für das alte Ansun stand, für eine Ära, die nun unwiderruflich zu Ende ging, waren Aryanwen und er zu den Symbolen eines neuen Zeitalters geworden, das soeben anbrach. Welche Rolle die Menschen darin spielten, war in höchstem Maße ungewiss, ob sie am Ende triumphieren und siegreich sein, ob sie auch nur überleben oder gar in den Untiefen der Geschichte verschwinden würden – und diese Unsicherheit war allenthalben zu spüren. Nicht nur vom niederen Volk hatte sie Besitz ergriffen, sondern auch vom Adel, von den gemeinen Kämpfern, die in der Stunde der Not nun alle zu den Waffen gegriffen hatten, ebenso wie von den Soldaten, die nicht mehr um Macht oder Besitzstände kämpften, sondern nur noch um die nackte Existenz. Und auch Dag fühlte sie, die Angst, eine Niederlage zu erleiden, von der sich die Menschheit womöglich niemals erholte, die nach vielem Tod und Leid ein Dasein in Unfreiheit und Untderdrückung bedeuten würde. Doch ihm war klar, dass er sich diese Zweifel niemals anmerken lassen durfte.
Dag brauchte nur in Aryanwens Gesicht zu sehen, in ihre bleichen, von Trauer gezeichneten Züge, um zu wissen, dass sie ebenso empfand wie er. Aber er sah dort auch ihre Geduld, ihre Zuneigung und ihren Glauben daran, dass die gerechte Sache letztlich obsiegen würde, und er fand die Kraft, die Frage seines Vaters mit einem entschiedenen Nicken zu beantworten.
Er nahm Aryanwen bei der Hand, und beide bestiegen eine der Zinnen, sodass sie von den Türmen und Wehrgängen aus weithin zu sehen waren – er, Dag, im Waffenrock Ansuns, über dem er einen herrlich gearbeiteten Harnisch trug, der im Licht der Morgensonne glänzte; Aryanwen nicht in einem Kleid, sondern in der einfachen Tracht eines königlichen Bogenschützen, einen Bogen in der Hand und einen mit Pfeilen gefüllten Köcher über der Schulter. Nur ihr zarter Wuchs und ihr langes Haar, das im Morgendwind wehte, verrieten auch dem entfernten Betrachter, wer sie war.
Stille war eingekehrt.
Nirgendwo auf den Wehrgängen und Türmen wurde mehr ein Wort gesprochen, sogar das Klirren der Rüstungen war verstummt. Aller Augen hatten sich auf den jungen Herzog und die Königin von Tirgaslan gerichtet, die dort oben auf der höchsten Zinne standen, Hand in Hand, und bereit waren, den Waffengang mit einem übermächtigen Gegner zu wagen.
»In diesem Augenblick«, begann Dag seine Rede, nun nicht mehr zweifelnd, sondern laut und mit fester
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