Die Herrschaft der Orks
gefürchtet waren.«
Mit fiebrigen Augen starrte Rammar ihn an.
Am liebsten hätte er alles, was Dag erzählt hatte, als Unsinn abgetan, und noch lieber hätte er ihn auf der Stelle erschlagen. Aber etwas sagte ihm, dass der Mensch die Wahrheit sprach – nicht einmal Milchgesichter konnten sich etwas so Aberwitziges ausdenken.
Auch Balbok schenkte dem Bericht offenbar Glauben. Der hagere Ork stand reglos und wie von Narkods Hammer getroffen. Dennoch war er der Erste, der die Sprache wiederfand.
»Du, Rammar«, meinte er, »wenn sich niemand mehr an uns erinnert, sollten wir dann nicht hingehen und ihr Gedächtnis ein bisschen« – er fuhr mit dem Finger über die Schneide des saparak – »na ja, auffrischen?«
»Du willst zurückgehen? Nachdem wir hier leben wie die Maden im rammashg ? Nachdem wir uns endlich unser eigenes Königreich geraubt haben?«
»Aber König zu sein ist langweilig, wenn niemand davon weiß«, wandte Balbok ein. »Wahrscheinlich ahnen die Milchgesichter nicht einmal, dass es uns überhaupt noch gibt.«
»Allerdings nicht«, stimmte Dag zu. »Wie gesagt, ihr seid zu Legenden geworden. Einige bezweifeln sogar, dass es euch überhaupt je gegeben hat.«
»Hast du das gehört, Rammar?« Balboks schmale Züge verzerrten sich vor Empörung. »Weißt du, wir sollten hinfahren und ein paar von ihnen erschlagen. Nur so, um mal achgosh-douk zu sagen. Danach können wir ja wieder auf unsere Insel zurückkehren.«
»Nein.« Rammar schüttelte den Kopf. »Wenn es wirklich stimmt, was dieses junge Stinkmaul hier sagt, dann will ich nicht zurück. Ich will nicht sehen, was die Milchgesichter aus sochgal gemacht haben. Außerdem haben wir bereits einmal versucht, ihnen die Wahrheit über uns Orks beizubringen, und was hat es gebracht? Ganz offenbar überhaupt nichts.«
»Aber Rammar …«
»Kriok!« , brachte Rammar seinen Bruder zum Schweigen. »Ich will nicht mehr darüber reden.«
»Aber …«
Rammar seufzte so abgrundtief, dass Balbok sogleich wieder verstummte. »Würdest du wohl das Maul halten?«, fragte der Feiste seinen Bruder. Es klang weder laut noch aufbrausend, sondern ziemlich resigniert. »Nur dieses eine Mal?«
Balbok sah ihn an, den Mund vor Staunen offen. Die Bestürzung über Rammars ungewohnt verhaltene Reaktion war ihm anzusehen, ebenso wie die Fragen, die ihm auf den wulstigen Lippen brannten. Aber er behielt beides für sich.
Daraufhin sank Rammar auf dem Thron zusammen, das breite Kinn auf die fleischige Faust gestützt und in düstere Gedanken versunken. Die Heiterkeit, die er vorhin noch empfunden hatte, war verflogen, und das nicht nur, weil ihre einstige Heimat nun den Gnomen gehörte und die Menschen die Rolle, die sein Bruder und er in der Geschichte gespielt hatten, offenbar völlig falsch in Erinnerung behalten hatten. Sondern weil ihm ein weiterer, nicht weniger deprimierender Gedanke gekommen war.
Wenn es stimmte, was der Mensch behauptete, und auf dem Festland tatsächlich fast fünf Jahrhunderte vergangen waren, dann bedeutete das auch, dass niemand, den sie einst gekannt hatten, mehr am Leben war.
Kein Corwyn.
Kein Zauberer Granock.
Kein verdammtes Elfenweib.
Und der König der Orks ertappte sich dabei, dass ihn dieser Gedanke noch mehr erschütterte als alle anderen.
6.
OSLOK’S FIRUNN
»Rammar?«
»Was?«
Im brodelnden Saft seiner schlechten Laune schmorend fläzte Rammar sich auf dem Thron. Wie lange er schon da saß, wusste er nicht zu sagen, und es war ihm auch gleichgültig. Als König hatte er schließlich alle Zeit dieser Welt – und das war ganz offenbar eine Menge mehr Zeit als anderswo …
Zögernd schaute er auf – nur um festzustellen, dass sich der gefangene Jüngling von seinen Fesseln befreit hatte! Doch statt sich auf ihn zu stürzen und ihn mit ihren saparak’hai zu durchbohren, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, standen seine Bewacher nur herum und grinsten dämlich, genau wie Balbok, der ebenfalls von einem grünen Ohr zum anderen feixte.
»Darf man fragen, was so komisch ist?«, wetterte Rammar los. »Seht gefälligst zu, dass ihr das Milchgesicht wieder in Ketten legt, oder …«
In diesem Augenblick veränderte sich noch etwas, und zwar der Jüngling selbst. Seine schlanke Gestalt begann plötzlich zu flackern wie eine Kerze im Wind, seine herben Gesichtszüge und sein dunkles Haar verblassten, ebenso wie die derbe, zerschlissene Kluft, die er trug – und er verwandelte sich vor Rammars ungläubig geweiteten
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