Die Herrschaft der Orks
geringste Zweifel. Die Nachricht, die der Bote bei sich hatte, trug das Siegel von Ansun!«
»Ein Siegel lässt sich fälschen.«
»Mit Verlaub, mein König«, entgegnete Savaric, »ich denke, es ist Euer Edelmut, der Euch so sprechen lässt. Ihr wollt nicht glauben, dass Menschen einander so etwas antun können. Doch die bittere Wahrheit ist, dass in Ansun schon längst keine Menschen mehr regieren. Osbert und seine Gefolgschaft sind tollwütige Hunde, und als solchen ist ihnen jede Arglist zuzutrauen.«
»Selbst eine wehrlose junge Frau zu entführen?«, fragte Tandelor und zwinkerte rasch die Tränen weg, die ihm in die grauen Augen treten wollten, Tränen unbändiger, hilfloser Wut.
»Auch das.« Savarics hagere Miene machte deutlich, dass er nicht den geringsten Zweifel hegte.
Tandelor nickte.
Sein Verstand hatte die bittere Wahrheit längst anerkannt, sein Herz war voller Furcht. So erleichtert er einerseits darüber war, dass er nach sechzig bangen Tagen der Ungewissheit endlich Kunde über den Verbleib seiner Tochter bekommen hatte, so erschütternd war die Enthüllung, dass es nicht etwa Zwerge oder Orks gewesen waren, die sein eigen Fleisch und Blut entführt hatten und in einem finsteren Kerker gefangen hielten.
Sondern Menschen.
Osbert von Ansun hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Tandelor nicht mochte. In den fast einhundert Jahren, die seit dem Unabhängigkeitskrieg vergangen waren, der schließlich mit der Loslösung der Städte Sundaril, Andaril und Taig aus dem Reichsverbund und mit der Gründung des Reiches von Ansun geendet hatte, hatten die Herzöge von Ansun ihre Interessen gegenüber Tirgaslan stets hartnäckig verfolgt. Unter Osbert jedoch hatte die Gegnerschaft einen neuen Höhepunkt erreicht, und erstmals seit dem Ende des Krieges hatten wieder die Waffen gesprochen.
Als die Zwerge unter ihrem kriegstreiberischen König Winmar die Grenzen ihres Reiches überschritten und in Ansun einfielen, hatte König Tandelor es als seine Pflicht betrachtet, die Zerwürfnisse der Vergangenheit zu überwinden und seinen Nachbarn in Ansun zu Hilfe zu kommen – doch man hatte es ihm schlecht gedankt. Als in der entscheidenden Schlacht Osberts Vater Valeran fiel, gab Osbert Tandelor die Schuld dafür und wandte sich gegen ihn. Mithilfe gedungener Ork-Söldner vertrieb er die Befreier aus seinem Herzogtum. Fortan sah Tirgaslan sich einem neuen Feind an den Grenzen ausgesetzt, und dieser Feind hatte nun erneut zugeschlagen, schrecklicher und niederträchtiger als je zuvor.
Tandelor atmete schwer.
Was, bei allen Königen, die vor ihm auf diesem Sitz aus Alabaster gesessen hatten, sollte er nur tun?
»Ich weiß, dass Ihr Euch sorgt, mein König«, ergriff Savaric erneut das Wort. Wie die meisten Ratsmitglieder trug er nicht Waffenrock und Rüstung, wie es zu Kriegszeiten üblich gewesen wäre, sondern ein prunkvolles Ratsgewand, das von einer reich verzierten Fibel gehalten wurde – ein Anhaltspunkt dafür, wie sehr der Jahrzehnte währende Krieg für den Adel zur Normalität geworden war. »Lasst mich Euch deshalb einen Vorschlag unterbreiten«, fuhr er fort, wobei er sich Beifall heischend nach den anderen Ratsmitgliedern umblickte. »Einen Vorschlag, der gleich mehrere unserer Probleme auf einen Schlag beseitigen wird.«
»Sprecht«, forderte Tandelor ihn auf, vage Hoffnung schöpfend.
»Wir alle sind uns darüber einig, dass Osbert den Bogen überspannt hat. Schon lange ärgert er uns, indem er unsere Grenzen verletzt und seine Söldner wieder und wieder auf unsere Seite des Flusses vorstoßen lässt. Doch diesmal ist er zu weit gegangen. Eine Prinzessin von Tirgaslan zu entführen ist ein Frevel ohnegleichen!«
»Damit habt Ihr fraglos recht«, meldete Ruvon sich zu Wort, sein schärfster Rivale, der ihm an der Tafel gegenübersaß. »Doch was genau wollt Ihr unternehmen?«
»Ich bin dafür, ein Heer auszurüsten und gegen Ansun zu schicken. Eine Streitmacht, die nicht nur Prinzessin Aryanwen aus Osberts schmutzigen Klauen befreit, sondern diesen Emporkömmling auch ein für alle Mal in seine Schranken verweist und das Gebiet von Ansun wieder in den Reichsverbund eingliedert!«
Einige Ratsmitglieder – vor allem solche, die auf Savarics Seite des Tisches saßen, bekundeten ihre Zustimmung, indem sie mit den Handflächen auf das glatte Eichenholz schlugen. Andere hingegen waren alles andere als begeistert.
»Was redet Ihr da?«, widersprach Lord Lavan, ein weiterer Gegner Savarics
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