Die Herrschaft Der Seanchane
erscheinen. »Ihr müsst euch erst dann Sorgen machen, wenn er aufhört, daran zu glauben.« Das Mädchen Cyndane klebte an seinen Fersen wie ein vollbusiges kleines, silberhaariges Schoßtier, das in Rot und Schwarz gekleidet war. Aus irgendeinem Grund hatte Moridin eine Ratte auf der Schulter sitzen, deren helle Nase aufgeregt schnupperte, während ihre schwarzen Augen den Raum misstrauisch musterten. Aber vielleicht saß sie auch grundlos da. Das jugendliche Gesicht hatte ihn ja auch nicht weniger verrückt gemacht.
»Warum habt Ihr uns herbestellt?«, verlangte Demandred zu wissen. »Ich habe viel zu tun und keine Zeit für irgendwelche Plaudereien.« Unbewusst versuchte er, größer zu erscheinen, um gegenüber dem anderen Mann zu bestehen.
»Mesaana ist wieder nicht gekommen?«, sagte Moridin anstelle einer Antwort. »Schade. Sie sollte sich anhören, was ich zu sagen habe.« Er pflückte die Ratte am Schwanz von seiner Schulter und sah zu, wie das Tier vergeblich mit den Beinen strampelte. Außer der Ratte schien nichts für ihn zu existieren. »Kleine, scheinbar unwichtige Dinge können große Bedeutung erlangen«, murmelte er. »Diese Ratte... Ob es Isam gelingt, dieses andere Ungeziefer namens Fain zu finden und zu töten? Ein Wort in das falsche Ohr geflüstert oder nicht in das richtige gesagt. Ein Schmetterling schlägt auf einem Ast mit seinen Flügeln und auf der anderen Seite der Welt stürzt ein Berg in sich zusammen.« Plötzlich krümmte sich die Ratte zusammen und versuchte, ihre Zähne in sein Handgelenk zu schlagen. Mit einer fast beiläufigen Bewegung warf er die Kreatur fort. Mitten in der Luft flammte ein Feuerball auf, etwas, das heißer als jede Flamme war, und die Ratte war verschwunden. Moridin lächelte.
Demandred zuckte ungewollt zusammen. Das war die Wahre Macht gewesen; er hatte nichts gespürt. Ein schwarzes Körnchen trieb quer durch Moridins Augen, gefolgt von dem nächsten, ein gleichmäßiger Strom. Der Mann musste ausschließlich die Wahre Macht benutzt haben, seit Demandred beim letzten Mal Zeuge geworden war, wie er so viele Saa so schnell gesammelt hatte. Er selbst hatte die Wahre Quelle nie angefasst, es sei denn in größter Bedrängnis. Natürlich hatte jetzt allein Moridin dieses Privileg, seit seiner... Salbung. Der Mann musste wirklich wahnsinnig sein, um sie unbedacht zu verwenden. Sie war eine Droge, noch Sucht erzeugender als Saidin, tödlicher als jedes Gift.
Moridin trat auf Osan'gar zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. Das Saa ließ sein Lächeln noch Unheil verkündender erscheinen. Der kleinere Mann schluckte und erwiderte das Lächeln unsicher. »Es ist gut, dass Ihr nie in Erwägung gezogen habt, den Schatten des Großen Herrn zu entfernen«, sagte Moridin leise. Wie lange hatte er draußen gestanden? Osan'gars Lächeln wurde noch eine Spur kränklicher. »Al'Thor ist nicht so klug wie Ihr. Erzähl es ihnen, Cyndane.«
Die kleine Frau richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Vom Gesicht und ihrer Figur her war sie eine süße Pflaume, die nur darauf wartete, gepflückt zu werden, aber ihre großen blauen Augen waren wie ein Gletscher. Vielleicht ein Pfirsich. In diesem Zeitalter waren Pfirsiche giftig. »Ich schätze, ihr erinnert euch an die Choedan Kai.« Keine noch so große Anstrengung hätte diese tiefe, atemlose Stimme irgendwie anders als erotisch klingen lassen, aber ihr gelang es, sie mit einem sarkastischen Tonfall zu unterlegen. »Lews Therin hat zwei der Zugangsschlüssel, einen für jeden. Und er kennt eine Frau, die stark genug ist, den weiblichen der beiden zu benutzen. Er plant, die Choedan Kai für seine Tat zu verwenden.«
Auf der Stelle redeten alle durcheinander.
»Ich dachte, sämtliche Schlüssel wären zerstört!«, rief Aran'gar und sprang auf die Füße. Ihre Augen waren vor Furcht weit aufgerissen. »Er könnte die Welt zerstören, wenn er auch nur versucht, die Choedan Kai zu benutzen!«
»Hättest du jemals etwas anderes als historische Abhandlungen gelesen, dann wüsstest du, dass es so gut wie unmöglich ist, sie zu zerstören!«, fauchte Osan'gar sie an. Aber er riss an seinem Kragen, als wäre er zu eng, und seine Augen schienen bereit, ihm gleich aus dem Kopf zu fallen. »Woher will dieses Mädchen wissen, dass er sie hat? Woher?«
Cyndane hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als Graendal auch schon ihr Weinglas hatte fallen lassen und es über den Boden gerollt war. Ihr Gewand wurde so scharlachrot wie frisch
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