Die Herzen aller Mädchen
Ballier-Fraktion angehört. Schneiders Verhalten hatte er abwechselnd als Verdrängung, Wahnvorstellung, Irrtum oder raffinierten Bluff bezeichnet, doch langsam schien er umzukippen. Es fiel ihm schwer. Seine Chefin sollte nicht noch sinnloser gestorben sein. Ballier musste das Buch bei sich gehabt haben. Doch den Weg, den es von ihr bis in Schneiders Fluchtauto genommen haben sollte, konnte man sich nur in wildesten Arabesken vorstellen.
»Hören Sie«, sagte Bettina, die es ja auch nicht wusste und genauso wie alle anderen hier um Logik und Sachlichkeit rang, »ich habe das Buch gesehen. Es hat wirklich aufklappbare Seiten. Und sie sind tatsächlich so –«
»Obszön?«, fragte Jaecklein knurrig.
»Ja.«
»Dieser Schneider redet und redet«, echauffierte er sich. »Doch bislang haben wir nicht den kleinsten Beweis, dass er das Buch wirklich hat. Er blufft.«
Die Theorie war nicht neu. Bettina seufzte.
»Nein, wirklich, überlegen Sie doch mal –« Jaecklein sah auf. »Wieso fahren wir ab?«
»Nur da vorn auf den Rastplatz«, sagte der Psychologe. »Der Entführer hat sich nun doch überzeugen lassen, dass Dr. Ritter zahlungsbereiter sein wird, wenn er ein kleines Lebenszeichen seines Besitzes erhält.«
»Hä?«, machte Jaecklein ungnädig.
»Der Schneider wird dort vorn eine Seite aus dem Ovid- Kodex rausschmeißen.«
Zwei Beamte sprangen dem flatternden Pergamentbogen hinterher, während der rote Audi noch zwischen Picknickbänken und Toilettenhäuschen wieder beschleunigte und davonraste. Bettina brauchte nur einen kurzen Blick auf das weiche braune Blatt zu werfen, um es zu erkennen: tapferer Soldat in einer düsteren Welt. »Das kenne ich«, sagte sie zu den Rücken der Kollegen, die sich im Polizeibus um den so mühsam erkämpften Schatz scharten. »Das ist echt.«
Keine halbe Stunde später konnte Hauptkommissar Ebert persönlich mit Dr. Ritter sprechen. Grau und müde von dem zermürbenden Nachmittag saß der Einsatzleiter an seinem Schreibtisch in der mobilen Einsatzzentrale, eine Plastikflasche mit billiger Apfelschorle und das Blatt mit dem Soldaten vor sich. Sein Ton aber war immer noch freundlich und bestimmt, nicht anders, als wenn er mit Schneider gesprochen hätte. »Wir ermitteln grundsätzlich in verschiedene Richtungen, Herr Dr. Ritter«, sagte er soeben sehr höflich, und Ritter hielt ihm weniger geduldig entgegen, dass die Polizei wertvolle Zeit vertan und ein Kulturgut von höchstem Belang in unnötige Gefahr gebracht habe, weil sie bei ihren Ermittlungen einseitig und ohne Beweise jene lästige Versicherungsagentin zur Diebin des Ovid hochstilisiert habe, dabei war es ein einfacher Arbeiter, mit dem doch zweifellos leicht ins Geschäft zu kommen sei, da müsse man nur das Geld sprechen lassen. Seine Worte röhrten verzerrt durch die Lautsprecher in die enge Kabine, und Bettina dachte, dass der Unterschied zwischen Schneider und Ritter tatsächlich nicht allzu groß war. Sogar ihre Stimmen hörten sich ähnlich an.
»Herr Dr. Ritter«, antwortete ihm Ebert mit fest ums Mikrofon geballter Rechter, doch nach wie vor verbindlich, »wir brauchen dringend Ihre Hilfe. Nicht Ihr Geld. Uns fehlt eine Autorität, auf die der Entführer hört. Ein Unterhändler.«
»Ich rede gleich mit ihm«, sagte Ritter sofort. »Das ist sowieso das Beste. Geben Sie mir nur die Nummer.«
»Oh nein«, sagte Ebert, drehte sich aber erleichtert zu dem Psychologen und hielt den Daumen hoch, »das müssen wir absprechen und koordinieren. Wir befinden uns auf der A 8, Höhe Karlsbad. Vielleicht können wir den Entführer mit Ihrer Hilfe zum Halten bewegen. Auf dem Rastplatz Höllberg, das wäre ein unbewirtschafteter in angemessener Nähe. Da könnten wir sperren und dann versuchen, eine Übergabe zu machen und die Geiseln zu befreien. Wären Sie bereit?«
»Aber das ist doch ganz selbstverständlich«, sagte Ritter großzügig.
Den Polizeibus hielten sie auf dem nächsten bewirtschafteten Rastplatz. Von dort aus gelang es Ebert und Ritter tatsächlich, den Entführer auf den Höllberg zu leiten und zum Anhalten zu bewegen. »Er ist müde«, sagte der Psychologe, der mit Bettina in der offenen Tür des Busses stand und nur mit halbem Ohr die Gespräche verfolgte. Sie brauchten alle eine Pause.
»Kein Wunder, er hat Sonntagnacht nicht geschlafen.« Bettina war froh, wieder raus an die Luft zu dürfen, auch wenn es nur die abgasgeschwängerte eines Autobahnparkplatzes war. Und da hat er noch
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