Die Herzen aller Mädchen
Bettina, die sich aufregte, wenn Enno als Mädchenprügler hingestellt wurde. Weil sie ganz tief im Inneren fürchtete, ihr Adoptivsohn könnte seinem miesen Erzeuger ähneln, der ihre Schwester Barbara geschlagen hatte. »Die ist viel älter als er und sieht vielleicht niedlich aus mit ihrem Ballettgetue, oder waren es Pferde, jedenfalls ist sie ein Biest, die hat Enno sein neues Scout-Mäppchen kaputt geschnitten, mit einem Messer, das sie mit in die Schule gebracht hat, in Ihre Schule! Und wir sind nicht so reich, dass wir uns jede Woche neue Scout-Mäppchen leisten können. Enno hat jetzt noch kein neues. Dafür hat sich auch niemand entschuldigt, da hieß es, Querelen unter Kindern, was weiß ich.« Wütend verschränkte Bettina die Arme.
»Es ist nicht heraus, wem das Mäppchen gehört hat«, sagte Schmoll. »Oder das Messer.«
Gott, dachte Bettina, was hab ich da bloß gesagt, dieses Mäppchen hat mich schon Wochen meines Lebens gekostet, und das wird jetzt immer so weitergehen bis zu Ennos Abitur. »Was hat er gemacht?«, fragte sie müde. »Sagen Sie einfach, was er gemacht hat.« Sie hakte ihre Finger fest ineinander und schaute zu Boden und wusste, dass jeder Augenkontakt die Dämme niederreißen würde und sie dann noch am Nachmittag hier säßen, beschäftigt mit jeder Äußerung, die ihr allzu unabhängiger Sohn je innerhalb dieser Mauern von sich gegeben hatte.
»Haben Sie denn gar nicht mit Enno gesprochen?«, fragte Schmoll nun. »Wollten Sie nicht wissen, weswegen wir Sie herbestellt haben?«
Nicht wir, du hast mich herbestellt, dachte Bettina. Weil du mir den gespannten Schilfstängel geben willst und meinen Sohn dazu benutzt. »Er hat gesagt, er hat …«
Eine Penis-Rakete gebaut, hatte er gesagt und gekichert. Ich hab eine Penis-Rakete gebaut, Tina. Und sehr treuherzig: Aber ich hab sie nicht angezündet. Ich bin ja nicht dumm.
»… etwas Komisches gebastelt«, schloss sie. Eine Pause entstand, ein kurzes Schweigen, das nur bedeuten konnte, dass es ernst war, dass da noch irgendwo eine schlimme Pointe aufgespart wurde, ein Knaller, der diese Pause wert war. Unter ihren halb geschlossenen Lidern sah Bettina, wie Schuldirektor Schmoll sich bewegte, wippte, zurückbeugte, etwas auf seinem Schreibtisch weiter hinten suchte. Dann stellte er vorsichtig einen Dildo neben sich auf den Tisch. »Vermissen Sie den?«, fragte er sanft.
Bettina gab ihre Büßerinnenhaltung auf. Das Teil war eine naturgetreue Nachbildung, lang und mächtig, aus orangefarbenem Silikon mit einer Art Gelenk im unteren Drittel, das durchsichtig und mit bunten Kügelchen gefüllt war. Außerdem besaß es an gebotener Stelle einen kleinen spitzen Auswuchs, der wie ein Schwimmer im Kopfsprung geformt war.
»Den habe ich noch nie gesehen«, sagte Bettina wahrheitsgemäß.
Schmoll stieg von seinem Tisch herunter, offenbar kam er sich so direkt neben jener massiven Erektion selbst bedrängt vor. Bettina spürte Wut aufsteigen. Okay, da hatte ihr Sohn irgendwo einen alten vergilbten Vibrator aufgetan und sich in der Schule damit erwischen lassen, das war nicht schön. Zweitklässler sollten nicht mit Pornografie und Sexspielzeug in Berührung kommen, ganz gewiss nicht. Andererseits ging es hier um die Nachbildung eines menschlichen Körperteils, das Enno nicht fremd war. Es stammte nicht aus ihrem Haushalt, Enno hatte es irgendwo gefunden, Gott allein wusste wo, in einer Mülltonne, bei einem Freund. Wie auch immer, jedenfalls war das Interesse eines kleinen Jungen an so einem Ding normal, das hoffte Bettina jedenfalls. Heikel, aber normal. Kein Grund, eine dermaßen hochnotpeinliche Präsentation zu inszenieren. Dies Gespräch hätte sachlich verlaufen müssen, ohne Anspielungen, ohne Blicke und angezogene Knie.
»Wo haben Sie das gefunden?«, fragte Bettina kühl.
»In Ennos Händen«, antwortete Schmoll. »Er saß beim Fahrradschuppen –«
»Allein?«, unterbrach Bettina.
»Mit noch zwei anderen Jungs.«
»Haben Sie deren Eltern auch schon bestellt?«, fragte Bettina.
Schmoll schüttelte den Kopf. »Ich wollte erst Sie hören.«
»Wieso?«, fragte Bettina aufgebracht. »Wieso muss immer Enno der Böse sein? Dieses Ding ist nicht von uns, ich kenne das nicht, ich habe es nie gesehen!«
Schmoll blickte sie mitleidig an. »Es geht nicht allein um den Dildo«, sagte er. »Natürlich ist es nicht gut, wenn Zweitklässler so was zu Hause im Nachtkästchen ihrer Eltern finden, ist es nicht, aber Herrschaften, da gibt es
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