Die Herzen aller Mädchen
blendete. Die Situation war wieder mal unübersichtlich. »Nein«, verkündete sie nach ziemlich hektischer Suche. »Moment.« Sie drückte Syras Nummer und lauschte unter dem Brummen des Baggers und Balliers belustigten Blicken auf das Klingelzeichen. Schließlich erreichte sie eine Mailbox. Sie meldete, dass sie nun Frau Ballier von der Versicherung getroffen habe, und kam sich dabei selbst idiotisch vor. Rasch klappte sie das Telefon zusammen und stopfte es in ihre Jackentasche.
»So«, sagte Ballier, deren Hund inzwischen heftig an der Leine zog. »Wie wär’s mit einem Rundgang? Jetzt hätten wir mal Gelegenheit, denn die Leute von der Bibliothek sind noch nicht da. Gewöhnlich ist hier ab neun Uhr spätestens offen, obwohl die erst um zehn anfangen – offiziell. Diese Buchmenschen sind so ungeheuer fleißig.« Das letzte Wort dehnte sie ironisch.
»Ich dachte, man kommt nur mit Chip und Iriskontrolle und Codes und Passwörtern rein«, sagte Bettina und schlug ihren Kragen hoch. Der Wind war eisig.
»Sehen Sie diesen Mann?«, fragte Ballier und wies auf den Bagger. »Der braucht das nicht.«
»Der ist ja auch draußen», sagte Bettina.
Ballier lächelte. »Eben«, sagte sie. »Ist gut, Liesel. Kommen Sie, Frau Boll! Kennen Sie denn die Bücherhalle schon?«
»Nein«, sagte Bettina zu Balliers Rücken. Denn die Versicherungsagentin stapfte schon entschlossen auf das Kloster zu.
Sie drückten sich an dem gefährlich brummenden Bagger vorbei, begegneten zwei weiteren Bauarbeitern und schritten, immer der vorwitzigen Liesel nach, über die rohe, aufgebrochene Erde bis zu einem winzigen Sandsteinhäuslein, das von den Renovierungsarbeiten noch verschont geblieben war. Sein Dach war moosbewachsen, die Fensterläden schief und zugeklappt.
»Das Pförtnerhaus«, kommentierte Ballier. »Das Kloster war in Betrieb bis zu den napoleonischen Kriegen, und danach wurde es von hiesigen Bauern bewirtschaftet.« Sie öffnete eine windschiefe hölzerne Gartenpforte, deren Angeln laut kreischten. »Na los. Kommen Sie. Sie werden staunen.«
Sie erreichten einen Garten, dessen Grün noch mit viel winterlichem Grau und Braun gemischt war, doch immerhin war die Erde hier nicht aufgerissen, sondern bewachsen. Alte Eichen umstanden eine lange Wiese, und linkerhand erhob sich überraschend ein mächtiges gotisches Kirchenschiff, beziehungsweise die Reste davon. Dach und Chor waren zerstört, doch Teile der Seitenwände mit ein paar Spitzbogenfenstern standen noch. Die Ruine des Westgiebels mit einer hohen Sandsteinrosette beherrschte streng die Anlage. Vom Parkplatz aus hatte Bettina ihn nicht gesehen, weil die Wirtschaftsgebäude des Klosters direkt davor standen. Hier jedoch zeigte er sich in all seiner Macht und beschwor einen Raum aus einer anderen Zeit.
»Ruhig, Liesel«, sagte Ballier und betrachtete Bettina von der Seite. »Gotisches Wetter ist das«, sagte sie. »Hell und sonnig. – Wussten Sie, dass die Gotik in einer Warmzeit entstanden ist? Damals war Grönland grün und bis hoch nach Norwegen wurde Wein angebaut. Da haben die Baumeister die dicken romanischen Wände aufgerissen, das Licht in die Kirchen geholt, und die Menschen haben es angebetet.« Sie wies auf das unwahrscheinlichste Bauteil der Anlage, ein flaches, glänzend gläsernes Haus, ein kastiges Ufo auf Stelzen, das in der feuchten Ruine stak und aus dem ehemaligen Chor herausragte wie eine Brücke zur Zukunft. »Und da«, schloss Ballier, »sind wir jetzt wieder angelangt. Es wird warm, es geht uns gut, wir öffnen sogar Bibliotheken, die das viele Licht eigentlich gar nicht vertragen.«
»Geht es uns denn gut?« Bettina fragte sich, ob dies braune Zeug hinter den spiegelnden Fensterscheiben Dämmung oder Sonnenschutz oder sonst was war, und wo die Bücher denn nun standen.
»Wollten Sie in irgendeiner anderen Zeit leben?«, fragte Ballier interessiert.
»Ich weiß nicht«, sagte Bettina.
»Wann, glauben Sie, hätten Sie sonst noch Polizistin werden können?«
»Ich weiß nicht«, wiederholte Bettina, die der Irrealis nervte. »Wie kommt man da rein?«
»Chip, Code und Iriskontrolle«, sagte Ballier. »Oh, sehen Sie mal. Die Arbeit ruft.« Im Innern des gläsernen Riegels tat sich was, schimmerndes Licht flammte in verschiedenen Fenstern auf, Jalousien fuhren hoch, an der Kopfseite öffnete sich die Sicht auf einen Raum mit Tischen und Computerterminals. »Der Unterschied besteht nur in der Richtung«, sagte Ballier, zog an Liesels Leine
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