Die Herzen aller Mädchen
sagte Bettina halblaut zu Krampe.
Der schüttelte leicht den Kopf, wie um die unerfreuliche Situation einfach abzuschütteln, und verschwand mit langen Schritten in einem mit Jalousien verkleideten Glaskasten. Wäre seine Tür eine ältere, ungefederte gewesen, hätte sie laut geknallt, als er sie zuschlug. Doch so hinterließ er nur ein sanftes Knarren und einen schwachen Geruch nach Rauch, den Bettina aus unerfindlichen Gründen besonders attraktiv fand.
»Abgeblitzt«, sagte Ballier nicht ohne Schadenfreude, »tja, warum sollte es Ihnen besser gehen als mir, nur weil Sie jung sind.« Die Agentin hatte es sich in einem Lehnstuhl am Fenster bequem gemacht, ganz vorn im exponiertesten Raum der langen Bibliothek, da, wo man das Gefühl hatte, nur noch zwischen moosigen Eichenstämmen zu sitzen. »Wollen Sie was über Bücher lernen?«, fragte sie Bettina mit einem leisen Lächeln. »Nur so, um mit ihm reden zu können? Damit er Sie morgen wieder reinlässt?«
»Ich werde morgen vermutlich nicht da sein«, sagte Bettina von Herzen.
Ballier grinste. Bettina nahm sich nochmals ihr Handy vor und versuchte vergeblich, Syra zu erreichen. Dann lief sie ungeduldig im Raum auf und ab, mit finstersten Gedanken im Kopf – wenn das ihr Fall wäre, würde sie Krampe vernehmen und gehen, ganz einfach. Stattdessen hing sie wegen dieser Tussi vom BKA ohne Anweisungen in der Warteschleife. Und das war peinlich, denn ohne Briefing konnte sie sich kaum verstellen: Jeder musste deutlich sehen, wie planlos sie dastand und wie wenig sie außerdem von Büchern wusste.
»Möchten Sie denn was lernen?«, fragte Ballier wieder.
Bettina ließ sich missmutig auf einen Stuhl fallen und seufzte. »Ja.«
»Dann lesen Sie«, sagte Ballier sanft.
»Was denn?«
»Das Erste, was Ihnen an den Hut stößt.«
Sie sahen sich an. Ballier lächelte.
»Sagte Aschenputtel zu ihrem Vater«, sagte Bettina unwirsch, das Märchen las sie dreimal täglich ihrer Tochter Sammy vor.
Balliers Miene wurde nachdenklich. »Sie tun es ja«, sagte sie.
»Was?«
»Lesen.«
»Ja«, sagte Bettina, »aber ich fand es schon immer allerhand, dass dieser Vater nichts für seine Tochter tut, außer ihr einen Haselzweig mitzubringen. Der hat absolut versagt. Meine Meinung.«
Ballier betrachtete sie.
»Ich weiß ja kaum«, fügte Bettina gereizt an, »wie ich das meiner Tochter erklären soll. Dass es solche Väter gibt.«
»Fragt sie denn danach?«, fragte Ballier.
»Nein«, gab Bettina zu. Die weiß gar nicht, wie es ist, einen Vater zu haben, fügte sie innerlich an. Die würde einfach alles glauben. Das ist es ja.
Ballier bückte sich ein wenig mühsam nach vorn, hob ihre Tasche hoch, ein verbeultes, umfängliches Ding, und kramte darin. Dann nahm sie ein Buch heraus und schlug es in der Mitte auf.
Bettina wartete. Darauf, dass Ballier ihr etwas sagen, zitieren, vorlesen würde. »Was tun Sie jetzt?«, fragte sie nach einer Weile, in der nichts weiter geschehen war, als dass weiter vorn im Gang ein elektrischen Gerät zu summen begonnen hatte.
Ballier blickte auf. »Ich lese.«
»Aber unser Gespräch war noch nicht zu Ende«, protestierte Bettina.
»Sie wissen, wie man mit Büchern umgeht«, sagte Ballier und blickte hinaus in den Gang, wo die gefüllten Regale warteten. »Suchen Sie sich eins aus.«
»Und was lesen Sie?«
Ballier drehte das Buch, sodass kurz ein roter Rücken aufblitzte. Mit goldenen Herzchen drauf. »Tja, wissen Sie», sagte sie fast entschuldigend, »ich arbeite jetzt schon fast ein Vierteljahr an diesem Fall.«
»Und da haben Sie sich einen Liebesroman mitgebracht, um die Wartezeiten zu überbrücken?«, fragte Bettina, die das von Observationen kannte. Ballier allerdings hätte sie es nicht zugetraut.
Die Agentin blickte ernst. »Nein. Ich bin nach fundierter Analyse zu dem Schluss gekommen, dass hier mit Wissenschaft vorerst nichts auszurichten ist.« Sie hob das Buch höher, sodass Bettina die Aufschrift erkennen konnte: Georg Krampe stand da in goldenen Lettern. Und Carlotta, das war wohl der Titel.
»In unserem Fall mit dem geschenkten Ovid«, sagte Ballier, »geht es um die Kunst der Liebe und sonst nichts.«
»Am Samstag ist Gregor Krampes Mutter Opfer eines Sprengstoffanschlags geworden, und in ihrem Mülleimer lag ein Ovid-Zitat«, sagte Bettina darauf, ohne es eigentlich zu wollen. Es war ihr nur so herausgerutscht, weil Ballier sie reizte. Sollte sie doch mal versuchen, diese Bombe in ihrer Liebestheorie
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