Die Herzen aller Mädchen
unterzubringen. Ballier aber nickte bloß, offenbar wusste sie es schon. Und senkte den Kopf wieder über ihr Buch.
Es war peinlich. Schrecklich peinlich. Bettina stand vor den langen Regalen und betrachtete Buchrücken, ohne sie überhaupt wahrzunehmen, sie fühlte sich so fehl am Platz wie nie. Alle möglichen Impulse stritten in ihr: Sie wollte in Gregor Krampes Glaskabinett stürmen und ihn zu dem Bombenanschlag befragen, sie wollte Ballier mehr Infos entlocken, sie wollte mit Syra sprechen, um ihren Arbeitsauftrag zu klären, sie wollte zurück auf die Dienststelle, heim zu den Kindern. Stattdessen stand sie hier und tat, als verstünde sie Latein. Wenn doch wenigstens die flotte kleine Marny da gewesen wäre und ihr Kaffee mit geschäumter Milch gebracht hätte. Aber nichts da, ihr blieb nur trockene Literatur, nehmen Sie die, die Ihnen zuerst an den Hut stößt. Bettina schloss die Augen und streckte die Hand aus. Das Buch, das sie griff, war ledergebunden und hatte ein angenehm kleines Format. Sie schlug es auf. »Sr. Exzellenz, dem Königl. Staatsminister Freiherrn von Zedliz« stand da in Fraktur.
»Sie interessieren sich für Kant?«, fragte Krampe über die Schulter. Er verließ soeben sein Büro, stand mindestens fünf Meter entfernt – wer der Autor des Werkes war, das Bettina in Händen hielt, konnte er nirgendwo gelesen haben, das sah nicht mal sie selbst, er musste es wissen. Bettina klappte das Buch erschrocken zu, lief rot an und wünschte, sie hätte es offen gelassen.
Krampe zwinkerte, ganz leicht nur, sie zweifelte sofort daran, es gesehen zu haben. Denn seine Miene war grimmig. Er wandte sich zu dem Brückchen, das den Büchersteg mit dem Klostergebäude verband. Kurz entschlossen stopfte Bettina das Buch zurück in sein Regal und folgte ihm.
An der Sicherheitsschleuse wurde Krampe aufgehalten. »Möchten Sie gehen?«, fragte er hoffnungsvoll, drückte zwei Knöpfe und bleckte die Zähne in Richtung einer winzigen Kamera, die über der Tür hing.
»Ich habe noch ein, zwei Fragen an Sie«, sagte Bettina, die sich inzwischen so über den vertanen Morgen ärgerte, dass sie beschloss, einfach das zu tun, was sie als leitende Ermittlerin getan hätte, egal ob sie Syra damit in die Parade fuhr oder nicht.
Die Tür öffnete sich. Krampe schritt zu. »Können wir das draußen machen?«, bat er. »Ich muss dringend mal an die Luft.«
Die Luft, die Krampe meinte, war nikotinhaltige. Er führte Bettina zu einer schäbigen kleinen Bank vor dem Haupteingang des Klosters, mit Blick auf und in Hörweite zur Baustelle. Dort ließ er sich nieder und zündete aufatmend eine Zigarette an. Bettina tat es ihm gleich. Dann saßen sie und rauchten. Es war kalt und hell und die Luft roch nach Erde.
»Ich hab Sie im Fernsehen gesehen«, sagte Bettina.
»Himmel«, sagte Krampe.
»Sie haben es dieser Tussi gegeben.«
»Nein, sie mir«, sagte Krampe.
Sie schwiegen wieder.
»Ihre Mutter ist fast gestorben«, sagte Bettina dann. »Bei der Explosion dieser Bombe.«
Krampe nickte.
»Es steht schlecht um sie. Falls sie aus dem Koma erwacht, wird sie vor Schmerzen umkommen.«
Er sah auf. »Was wollen Sie?«
»Eigentlich möchte ich nur wissen, wer den Sprengsatz konstruiert hat.«
»Ich auch«, sagte Krampe bitter. »Der einzige Mensch, den ich überhaupt kenne, der sich für so was interessiert hat, war mein Vater.«
Bettina blickte auf.
»Er ist seit zwei Jahren tot«, sagte Krampe rasch und sehr genervt.
»Ich weiß«, sagte Bettina darauf einfach. »Wir fragen uns dringend, wer Ihrer Mutter die Bombe gebracht hat. Es ist ein Rätsel. Sie war in einer Holzkiste, die nicht von der Paketpost zugestellt wurde. Wir haben alles überprüft. Von keiner Post. Und von keinem Parcel-Service.«
Krampe sog Rauch ein.
»Gut, so ein Paket kann man auch einfach vor die Tür stellen«, sagte Bettina.
Schweigen.
»Aber nach unseren Ermittlungen hat Ihre Mutter öfter merkwürdige Sendungen ohne Absender bekommen. Noch am Tag des Anschlags hat sie sich beim Briefträger darüber beklagt. Da fragt man sich doch, ob sie ein anonymes Paket hereingeholt und geöffnet hätte.«
»Vermutlich nicht«, sagte Krampe mit gesenktem Kopf.
»Wissen Sie etwas über anonyme Briefe?«
Krampe seufzte. »Meine Mutter ist leider eigen, was die Post angeht. Sie beschwert sich bei jedem Briefträger. Das ist eine Macke von ihr. Sie reagiert hysterisch auf Fanschreiben.« Er paffte an seiner Zigarette und blies den Rauch
Weitere Kostenlose Bücher