Die Herzen aller Mädchen
gedankenvoll ihre Zähne. Wenn der Ovid-Kodex wirklich heute Nacht gestohlen worden war, dann hatte Gregor das allerbeste Alibi der Welt.
Für das, was sie tat, als Gregor im Bad war, hätte sich eine andere Frau vermutlich geschämt. Doch Bettina besaß nicht die geringsten Skrupel, sich im Arbeitszimmer ihres Liebhabers umzusehen. Sie fand volle, staubige Bücherregale und einen leeren, nachlässig geputzten Schreibtisch. Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass etwas fehlte, dass es hier gewöhnlich anders aussah und dass in diesem Raum gelebt wurde, während die anderen tatsächlich eher Durchgangszimmer waren. Vielleicht lag es am Nippes. Der war hier so viel persönlicher und unvollkommener. An der Wand hing ein Tennisschläger, und auf einer niedrigen Kommode stand ein gerahmtes Gemälde, das zehn Zentimeter höher wesentlich besser ausgesehen hätte, doch offensichtlich hatten Zeit und Muße gefehlt, es aufzuhängen. Rasch durchsuchte Bettina die Schubladen des Schreibtischs. Sie waren leer bis auf ein paar Stifte und CDs. Das war merkwürdig. Nicht mal Härting in seiner sturen Ordnungssucht besaß leere Schubladen. Dann fiel ihr Blick auf Gregors Aktentasche, die neben der Tür auf einem Stuhl lag. Darin fand sie einen Notizkalender. Eilig blätterte sie in dem ledergebundenen Büchlein und suchte nach dem vorgestrigen Datum, um zu sehen, was Gregor sich für seine Italienreise eingetragen hatte. Da. Dort standen eine Zeit, vermutlich für den Abflug, und die hingekritzelten Worte Mona Lisa. Gregor und seine Frauen. Erst die Medea und nun die Mona Lisa. Ob das eine echte Person war? Eine Freundin? In Italien? Sie hörte Gregor im Bad pfeifen, stopfte den Kalender rasch in die Tasche zurück und verließ, plötzlich vorsichtig, den Raum. Im Wohnzimmer suchte sie ihre Kleidungsstücke zusammen und zog sich an.
Er pfiff. Etwas herzergreifend Fröhliches. Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen – woher war das noch mal?
War der Sex wirklich so gut gewesen?
Ja!, dachte Bettina, während sie ihren hübschen neuen Rock zumachte. Doch die Stimme der Vernunft sagte ihr, dass ein echter Wissenschaftler, der soeben sein Forschungsobjekt verloren hatte, keine alberne Arie aus My Fair Lady pfeifen würde, neue Liebe hin oder her. Und ein Wissenschaftler, der soeben sein Forschungsobjekt verloren hatte und dessen Mutter im Sterben lag, erst recht nicht.
Auf der Fahrt schwiegen sie. Vorerst. Ihr Schweigen war aber nicht unangenehm, ein wenig gespannt, doch freundlich, das lag vielleicht an der Musik: Tom Waits, der passte zum Morgen nach einer verluderten Nacht weit besser als das grüne Grün. Es war ein Zigarettenmorgen, diesig, mild, mit einsamen, schmutzigen Straßen und einem süßen Gefühl ganz tief im Bauch. Dennoch brauchte Bettina kein Nikotin, sie saß ruhig an Gregors Seite. Waits’ Stimme war rauchig genug, kratzte an Bettinas Misstrauen, sang von verblassenden Sternen und schmuddeligen Bars, dass die Welt eine lange, öde Piste war, mit Schlaglöchern, so weit das Auge reichte, und schrillen Amüsierschuppen hier und dort, dass sie alle kleine Gauner waren und Liebe eine Illusion, käuflich und trügerisch und viel zu schön. Der Verdacht gegen Gregor schien ihr zugleich richtig und völlig absurd: War sie benutzt worden? – Herrgott, und wie! Nur ein Alibi? – Mochte sein, aber welch kleinlicher Gedanke! Gregor saß derweil am Steuer und lächelte ihr zu. Ja, es gab sie, diese Leute, denen man nichts ansah. Soziopathen, die gelernt hatten, sich anzupassen. In gewisser Weise lernte das jeder.
»Kennst du einen Marc Schneider?«, fragte Bettina in Klaviermusik und Motorenlärm hinein. Eine Autobahnbrücke sauste vorbei. Sie fuhren Richtung Mannheim.
Gregor schüttelte den Kopf und drehte den CD-Player leiser. »Nein, warum?«
»Ich frage mich nur, wer das Buch gestohlen hat«, sagte Bettina. »Du warst es ja offensichtlich nicht.«
Gregor lachte verhalten. »Genau.«
»Warum bist du so fröhlich?«
Er sah sie an. »Ich habe mich verliebt.«
Sie ließ es nicht zu, dass ihr Herz aufging. »Aber dein Ovid ist gestohlen worden.«
»Wart es ab. Vermutlich hat Ritter ihn mit aufs Zimmer genommen und mit irgendeiner gefärbten Rothaarigen einen billigen Abklatsch der Purpurszene nachgestellt.«
Bettina mied seinen Blick. »Meine Chefin hätte das herausbekommen.«
»So. Wie gut, dass du bei mir warst. Das hat entschieden mehr Stil.«
Gegen ihren Willen musste sie grinsen. »Du
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